Nicht ohne Abdullah Öcalan

Norman Paech, Völkerrechtler, 01.03.2013

Nelson Mandela musste 27 Jahre auf Robben Island vor der Küste Südafrikas warten, ehe die südafrikanische Regierung unter Frederik deKlerk die Realitäten anerkannte, dass es ohne die unumstrittene Führungsfigur des mächtigsten Gegners keinen Frieden im Lande geben werde. Abdullah Öcalan ist jetzt bereits 13 Jahre auf Imrali und Recep Tayyip Erdoğan scheint es allmählich zu dämmern, dass der schwelende Krieg im eigenen Land nicht ohne die zentrale Persönlichkeit der Kurden befriedet werden kann. Und diese Persönlichkeit ist nach wie vor Abdullah Öcalan. Man hat immer wieder versucht, ihn durch verschärfte Isolierung aus dem Gedächtnis der Kurdinnen und Kurden zu streichen – vergebens. Wie oft hat man versucht, ihn durch andere Personen zu ersetzen – und es gibt hervorragende Persönlichkeiten zwischen Istanbul und Diyarbakir. Aber niemand hat die Ausstrahlungskraft, die historische und charismatische Legitimation eines Abdullah Öcalan. In ihm bündeln sich die verschiedenen Strömungen und Kräfte der Kurden.

Er hat es verstanden, aus dem Gefängnis heraus durch historische und programmatische Schriften sich Gehör zu verschaffen und die Widerstandskraft seines Volkes zu stärken. Niemand kommt an ihm vorbei, kein Friedensplan kann ohne ihn erstellt werden – das sollte die Lehre aus jetzt bald 30 Jahren erfolgloser militärischer Auseinandersetzung und über 10 Jahre vergeblicher Verbannung Öcalans sein. 

Ob allerdings Erdogan wirklich diese Lektion gelernt hat, ob er der Versuchung, immer wieder Militär vorzuschicken, endgültig absagt und einen wirklichen Prozess der Verhandlungen aufnimmt, ist schwer einzuschätzen. Denn er handelt nur scheinbar aus einer Position der Stärke. Die zahlreichen Gerichtsprozesse gegen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Journalistinnen und Journalisten, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die täglichen Verhaftungen, die überfüllten Gefängnisse und die vielen Hungerstreiks signalisieren, dass es in der Gesellschaft gärt. Die Nervosität der Regierung zeigt sich in dem politischen Niveau der Anklagen, die sich in der Mehrzahl auf die Unterstützung oder die Mitgliedschaft in einer Organisation (KCK oder PKK) bezieht und nur in den seltensten Fällen ein konkretes strafbares Delikt zum Gegenstand hat. Die Situation an der syrisch-türkischen Grenze und die Drohungen gegen den Nachbarn zeugen ebenfalls nicht von einer Position der Stärke, selbst wenn die NATO ihre Unterstützung mit Patriotraketen bekundet. Denn die Gefahr geht nicht von den Truppen Assads aus, sondern von den Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden und ihrer Wirkung auf die eigene kurdische Bevölkerung.

Seit Öcalan am 2. August 1999 von Imrali aus einen Wechsel der Strategie des bewaffneten Kampfes verkündet hat, wurden die Guerillaeinheiten der PKK weitgehend von türkischem Territorium abgezogen und ausschließlich auf Selbstverteidigung verpflichtet. Dies war der zweite große Schritt auf die Regierung zu, nachdem der 5. Kongress der PKK bereits am 24. Januar 1995 auf die Forderung nach einem eigenen kurdischen Staat verzichtet und auf Autonomie und Selbstverwaltung innerhalb der Grenzen der Türkei reduziert hatte. Die bestehenden Staatsgrenzen werden anerkannt und sollen somit unberührt bleiben. Dies waren substantielle Angebote an die türkische Regierung zu ernsthaften Verhandlungen, die diese allerdings nie wirklich angenommen hat. Denn trotz verschiedener Gesprächskontakte mit Regierungsvertretern in New York, Oslo und selbst auf Imrali, hat sich Erdogan nie auf die Forderungen nach Demokratie und Selbstbestimmung eingelassen.

Das Lösungsmodell der „demokratischen Autonomie“, welches Abdullah Öcalan der Regierung Erdogan für ernsthafte Verhandlungen unterbreitet, ist in seinen Grundzügen bekannt und enthält kaum neue oder überraschende Vorschläge. Es ist in vielfältiger Form von unterschiedlichen kurdischen Organisationen bereits vorgetragen worden. Ob 2006 vom Koma Komalên Kurdistan (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) als „Deklaration zur demokratischen Lösung der kurdischen Frage“ oder 2011vom Kongress für eine demokratische Gesellschaft (DTK) als „Vorlage eines Modellentwurfs für ein Demokratisches Autonomes Kurdistan“. Es hält sich ganz im Rahmen der Kopenhagener Kriterien, die auch die EU an den Beitritt der Türkei als Voraussetzung anlegt: Anerkennung der kurdischen und aller anderen ethnischen Identitäten, Gleichberechtigung der kurdischen Sprache und Kultur in allen gesellschaftlichen Bereichen, Anerkennung freier politischer Betätigung und Organisation sowie Freilassung der politischen Gefangenen einschließlich Öcalans. Im Zuge derartiger Verhandlungen ist auch immer wieder die Entwaffnung der Guerilla angeboten worden, wenn gleichzeitig die Regierung ihre Truppen aus Kurdistan abzieht und das Dorfschützersystem abschafft.

Die Umsetzung dieses demokratischen Konföderalismus erfordert in der Tat tiefgreifende Reformen der staatlichen Verfassung, die Erdogan offensichtlich noch nicht bereit ist, voranzutreiben. Dahinter stehen die traumatische Erfahrung der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und die Angst, dass Autonomie und Selbstverwaltung nur der erste Schritt zu weiterer Aufteilung und Sezession sind. Die zunehmende Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Kurden im Norden Iraks und Syriens nähren diese Befürchtungen natürlich. Doch Erdogan kommt aus diesem Dilemma, nicht heraus, wenn er weiterhin den Dialog verweigert.

Solange den Völkern in der Türkei und vor allem den Kurden nicht ihre vollen Rechte eingeräumt werden, herrscht ein latenter Bürgerkrieg im Lande, der jeder Zeit in Aufstände und Gewalt ausbrechen kann. Eine Regierung, die dieses Problem nicht löst, bleibt in ihrem politischen Handeln gelähmt und muss immer wieder zu Mitteln der Repression und Gewalt greifen. Wenn jetzt eine erste Delegation DTK und BDP nach Imrali reisen kann, ist das ein überfälliger Schritt politischer Vernunft. Doch Öcalan bleibt ein Gefangener und beansprucht nicht das Recht, für alles und alle zu sprechen. Erst wenn er das Gefängnis verlassen und sein Volk in Istanbul, Diyarbakir oder Hakkari treffen kann, wird die Regierung den verantwortlichen und verlässlichen Verhandlungspartner haben, den sie fordert. Denn ohne Öcalan geht gar nichts.

Quelle: 01. März 2013, Tageszeitug „Özgür Gündem“

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