Seyit Evran, Firatnews, 24.11.2016
Nach langen Verhandlungen wurde die von den USA angekündigte Offensive gegen Raqqa gemeinsam mit den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) – die Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind ebenfalls ein Teil davon – eingeleitet. Auch haben sich die von der Türkei ständig thematisierten YPG-/YPJ-Kräfte aus Manbij zurückgezogen. Daraufhin hat eine neue gefährliche Phase begonnen.
Die Türkei ist am 24. August in Syrien einmarschiert mit der Absicht, bestimme Gebiete zu besetzen. Das eigentliche Ziel ihrer Invasion wird mit den jüngsten Angriffen noch klarer – das Föderale System Nordsyrien, das die Kurden gemeinsam mit den anderen dort lebenden Volksgruppen aufzubauen versuchen.
Dieses Föderale System entfaltet sich natürlich entlang der Errungenschaften der Revolution in Rojava. Es ist zugleich das einzige Lösungsprojekt, das bislang für die Probleme Syriens entwickelt werden konnte. Während sich die Angriffe und Besatzungsziele der Türkei in erster Linie gegen die kurdischen Errungenschaften richten, so muss auch erkannt werden, dass sie gleichzeitig auf eine mögliche Lösung für Syrien abzielen.
Die Türkei hat nach Jarablus, Rai und Azaz nun auch Afrin angegriffen. Sie führt bei Afrin in der Shehba-Region Luftangriffe auf Gebiete, die von den YPG, der Revolutionären Armee und den SDF kontrolliert werden. Sie hat dutzende Dörfer zerstört und ausgeraubt. Die türkische Armee griff gemeinsam mit ihren Verbündeten in der Shehba-Region die kurdischen, arabischen und turkmenischen Dörfer von hinten an, die durch die SDF und die Revolutionäre Armee vom Islamischen Staat (IS) befreit worden waren. Das ist ein erneuter Beweis für die Zusammenarbeit der Türkei mit dem IS und dafür, dass sie dem IS hier Rückendeckung gibt. Entsprechende Erklärungen regionaler wie internationaler Kräfte liegen vor. Manche benennen diese Kooperation konkret, andere weisen indirekt darauf hin. Das türkische Militär und seine Verbündeten konzentrieren ihre Angriffe zunehmend auf die Region Al-Bab. Sie attackieren die kurdischen Dörfer sowie die Dörfer anderer ethnischer Gruppen aus der Luft mit Kampfflugzeugen und vom Boden aus mit Panzergeschützen, Kanonen und Raketen.
Die SDF und die Revolutionäre Armee sowie die YPG haben die Angriffe auf Al-Bab erwidert. Es kam zu Zusammenstößen. Die USA und Russland haben sich gegen die gefährlichen Angriffe der Türkei ausgesprochen. Ihre Reaktion war lediglich auf diese Erklärungen begrenzt, die nur die Luftangriffe der Türkei haben stoppen können. Deren Bodenangriffe halten weiter an.
Abzug aus Manbij
In dieser Phase kam mit der Erklärung hochrangiger US-Vertreter die Raqqa-Operation auf die Tagesordnung, derzufolge die Befreiungsoffensive für Raqqa unter der Führung der SDF – die YPG/YPJ ebenfalls vertreten – begonnen werde. Kurz darauf wurde die erste von insgesamt drei Etappen der Operation gestartet. Währenddessen setzte das türkische Militär mit seinen Verbündeten im Umkreis von Shehba und Al-Bab die Angriffe fort. Die Türkei bekräftigte ihre Forderung, die YPG müssten Manbij verlassen.
In einer Erklärung verlautbarte der Sonderberater Obamas für die Internationale Koalition, McGurk, die YPG würden sich aus Manbij zurückziehen, sobald sie ihre Ausbildungstätigkeiten beendet hätten. Drei Tage später erklärten die YPG ihren Rückzug. Währenddessen begannen die SDF eine Offensive, um die Gebiete um Manbij und Al-Bab vom IS zu befreien und die Sicherheit zu stärken. In diesem Rahmen entrissen die SDF dem IS die zwischen Al-Bab und Manbij liegenden Dörfer Qurtweran, Sheyh Nasir, Ilan, Qurt Shebha. Daraufhin griff das türkische Militär mit seinen verbündeten Banden die zuvor befreiten Dörfer mit Kampfflugzeugen sowie vom Boden aus mit Panzergeschützen, Raketen und Kanonen an. Seit letzter Woche werden aus diesen Dörfern heftige Kämpfe gemeldet. Durch die Luftangriffe der Türkei haben bislang mehr als ein Dutzend Zivilisten ihr Leben verloren. Die SDF haben die strategisch bedeutende Gemeinde Arima vom IS befreit, daraufhin wurde auch diese Angriffsziel der türkischen Kampfflugzeuge. Auf diese Weise hat der türkische Staat erneut bewiesen, dass er weiterhin mit dem IS operiert.
Die Kurden haben Probleme
Die USA haben die Demokratischen Kräfte Syriens sowie die kurdischen YPG-Einheiten nach Raqqa gelenkt. Sie haben Druck ausgeübt, damit sich die YPG aus Manbij zurückziehen. Wurden Manbij und Al-Bab danach der Türkei überlassen? Wegen dieser Entwicklungen diskutieren die Kurden und andere mit ihnen verbündete ethnische Gruppen ihre Beziehungen zu den USA. Diese haben sich bis jetzt zu den türkischen Angriffen nicht ernsthaft erklärt oder darauf reagiert. Darum entwickelt sich bei den Kurden eine Haltung: „Wir sind mit einem gefährlichen Spiel konfrontiert, das weit über einen Betrug hinausgeht.“
Die Frage „Wurden Al-Bab und Manbij der Türkei überlassen, während wir uns nach Raqqa gewendet haben?“ ist aktuell. Folglich diskutieren die Kurden die Option, die Raqqa-Operation einzustellen und sich eventuell auf einen ernsthaften Krieg mit der Türkei vorzubereiten. Das ist ihr natürliches Recht. Sollte es dazu kommen, werden die USA mehr zu verlieren haben als die Kurden und deren Bündnispartner. Sollten die Besatzungsbestrebungen der Türkei erfolgreich sein, würde das die Interessen der USA in der Region gefährden.
Warum schweigt Russland?
Auch Russland hat in dieser Hinsicht keine klare Haltung gezeigt. Manche sprechen von einer Übereinkunft Russlands mit der Türkei in Bezug auf Aleppo und es soll wohl auch konkrete Beweise dafür geben. Bei der Übereinkunft soll es sich um ein gegenseitiges Einvernehmen handeln, das Russland freie Hand in Aleppo ließe und der Türkei in Al-Bab und Manbij. Die ausbleibende Reaktion Russlands bestätigt diese Annahme.
Die Beziehungen können neu überdacht werden
Es ist zu beobachten, dass die Kurden und die anderen mit ihnen verbündeten Volksgruppen ihre Beziehungen zu den USA und Russland ernsthaft überdenken. Denn diese haben keinerlei ernst zu nehmende Haltung gegenüber den Angriffen der Türkei gezeigt. Das wird die Position beider Kräfte in Nordsyrien, Syrien und Rojava beeinflussen. Denn die Kurden und die Völker Nordsyriens sind nicht ohne Alternative.
Die Türkei will mit ihren Angriffen zu Resultaten kommen, bevor die neue US-Regierung offiziell ihr Amt antritt. Wegen der Aggression der Türkei steht auch die Frage im Raum, ob Nordsyrien der Türkei überlassen wurde im Gegenzug dafür, dass sie sich von Mossul fernhält.
Während die Türkei in Rojava und Nordsyrien ihre Angriffe forciert, sind auch einige Kollaborateure des türkischen Geheimdienstes in Rojava aktiviert worden. So treten Ibrahim Biro und Fuat Aliko täglich im Fernsehsender TRT Kûrdi auf, der von Erdoğan direkt zu Assimilationszwecken betrieben wird. Sie erklären dort, sie würden sich gemeinsam mit der Türkei in Rojava und Nordsyrien bewegen und ein System aufbauen. Sie propagieren, die YPG/YPJ und die SDF seien besiegt. Man sieht, dass sie entschlossen sind, den Verrat ihrer Vorväter auch heute fortzusetzen. Die Türkei versucht über diese Geheimdienstfiguren und andere im Süden und in Rojava an Einfluss zu gewinnen. Sie will auch Druck ausüben, damit diese Agenten nach Rojava gelassen werden.
Die Türkei hat auf diese Kollaborateure gestützt eine Operation in Südkurdistan ins Gespräch gebracht und in Silopi und der Grenzregion mit der Ausweitung ihrer Militärpräsenz bereits Vorkehrungen getroffen.
Sie versucht die innenpolitische, wirtschaftliche und politische Krise über diese Art von Besetzungsangriffen zu kaschieren. Wie zu Zeiten des Osmanischen Reiches will sie über diesen „Feldzug“ im Ausland von ihrer innenpolitischen Regression, Fäulnis, dem diktatorischen Regime, der ökonomischen Krise ablenken. Aber zahlreiche Experten, Diplomaten und Analytiker erklärten, die Türkei würde immer weiter in dem Sumpf versinken, in dem sogar der Bestand der türkischen Republik nicht mehr zu wahren sein werde.