Der Journalist Seyit Evran über die schwierige Regierungsbildung im Irak im Kontext der zunehmenden amerikanisch-iranischen Spannungen, 28.08.2018
Am 12. Mai diesen Jahres fanden im Irak die Parlamentswahlen statt, in deren Rahmen es zu unzähligen Beschwerden über Wahlbetrug und ähnliche Mängel kam. Ein Teil der Stimmzettel wurde daraufhin erneut per Hand ausgewertet. Trotz der Betrugsvorwürfe bemühten sich zwei Blöcke um die Bildung einer neuen Regierung. Mukteda El Sadr, der an der Spitze der Sarian-Wahlliste steht, und der irakische Premierminister Haydar Abadi führten jeweils Gespräche mit der Hikme-Wahlliste von Amr Hekim, der Vattaniye-Wahlliste und der ‚Irakischen Einheitskoalition‘. Sadr traf sich auch mit dem Gründer der Hashd-al Shabi Milizen Hadi Amiri, der zugleich die Fetih-Wahlliste anführt. Zudem fanden unterschiedliche Treffen mit den südkurdischen Kräften statt. Noch vor dem Beginn der Neuauszählung eines Teiles der Stimmzettel erklärte der Sprecher der Sadr-Bewegung, man habe sich mit den Wahllisten Hikme, Nasır und Vattaniye auf die Gründung einer neuen Regierung geeinigt. In der Erklärung verkündete man auch, die Kurdinnen und Kurden sowie alle anderen Gesellschaftsgruppen würden in der neuen Regierung repräsentiert sein. Während sich also Sadr, dessen Sarion-Wahlliste bei den Wahlen die meisten Stimmen erhielt, um die Gründung einer neuen Regierung bemühte, versuchte auch Nuri Maliki eine eigene Regierung auf die Beine zu stellen. Maliki führte insbesondere mit den Kurdinnen und Kurden Gespräche, darunter vor allem mit der KDP.
Die Bemühungen der zwei Blöcke um die Gründung einer neuen Regierung sind zugleich Ausdruck eines Kampfes zwischen den USA und dem Iran. Denn Sadr, Abadi und Amr Hekim führen das irakische Schiitentum an und legen Wert auf eine unabhängige Position vom iranischen Schiitentum. Ihre Nähe zu den USA ist weithin bekannt. Auch wenn Sadr keine direkten Beziehungen zu den USA unterhält, steht er doch über Saudi-Arabien in Kontakt mit den USA. Zwischen Sadr und dem Iran bestehen zahlreiche Widersprüche. Sadr möchte nach dem Tod des irakischen Schiitenführers Ali Sistani dessen Position als Ayatollah einnehmen. Der Iran betrachtet dies nicht mit sonderlich wohlwollenden Augen. Denn Sadr als Ayatollah und damit Führer der irakischen Schiiten würde den Plänen der USA gelegen kommen, das Zentrum des Schiitentums vom Iran in den Irak zu verlegen. Das würde auch dem Projekt eines ‚Iranischen Halbmondes‘ schaden. Sadr setzt auf die Anerkennung einer unabhängigen Position des irakischen Schiitentums gegenüber dem iranischen. Niemand wird bestreiten, dass Nuri Maliki gemeinsam mit dem Gründer der Hashd-al Shabi-Milizen, Hadi Amiri, dem Iran nahe steht. Daher wird weithin anerkannt, dass es sich bei den Streitigkeiten der beiden Blöcke um die Regierungsbildung im Irak letztendlich um einen Zwist zwischen dem Iran und den USA handelt.
Die Erklärung des Hashd-al Shabi-Sprechers
Trotz zahlreicher Einwände wurde die Hohe Wahlkommission im Irak aufgelöst und mit sieben Richtern neu besetzt. Das Parlament entschied, die Stimmzettel im gesamten Land neu auszählen zu lassen. Doch wurde nur die Neuauszählung von zehn Prozent der Stimmzettel in die Praxis umgesetzt. Als Vorwand wurde das Fehlen eines Urteils des Irakischen Verfassungsgericht genannt. Nach der Neuauszählung von zehn Prozent der Stimmzettel verkündete die Irakische Hohe Wahlkommission am 9. August 2018 das offizielle Wahlergebnis. Doch noch vor der Verkündigung erklärte der Hashd-al Shabi-Verantwortliche Ahmed Esedi, der zugleich die Fetih-Wahlliste anführt, man werde nach der Bekanntmachung des offiziellen Wahlergebnis die Gründung einer breit aufgestellten Regierung verkünden. Zudem werden man eine Delegation ins kurdische Hewler (Erbil) schicken und dort Gespräche mit der KDP führen.
Kurz nach dieser Erklärung traf sich Brett McGurk, Trumps Sonderbeauftragter für den Kampf gegen den Islamischen Staat, mit Mesut Barzani. Noch am selben Tag besuchten die Ehefrau und der Sohn von Celal Talabani, dem verstorbenen PUK-Generalsekretär, Mesut Barzani. Auf diesen Besuch folgte ein Treffen zwischen einer Delegation sunnitischer Parteien und Barzani. Auch wenn keine Details über die Treffen bekannt gemacht wurden, standen die Gespräche wohl im Zusammenhang mit der Gründung einer neuen irakischen Regierung. Darauf deutet die Erklärung Barzanis hin, alle Prozesse hätten sich an der irakischen Verfassung zu orientieren. Kurz nach diesen Treffen traf sich Barzani mit einer Delegation aus vier Parteien, die eine Anerkennung der Wahlergebnisse ablehnen. In diesem Rahmen begannen die Überzeugungsversuche. Dies weist wiederum daraufhin, mit welcher Absicht die zahlreichen Gespräche mit Mesut Barzani geführt wurden.
Die Erklärung der Sadr-Bewegung
Ungefähr eine Woche nach der Verkündung der offiziellen Wahlergebnisse erklärte ein Sprecher der von Sadr angeführten Sariun-Wahlliste, man haben sich mit den Wahllisten Nasır, El Hikme und Vattaniye auf die Gründung einer neuen Regierung geeinigt und werde zudem eine Delegation nach Hewler schicken, um mit den kurdischen Kräften Gespräche zu führen. Der Großteil der Parteien und Wahllisten, die sich an dieser neuen Regierung beteiligen, nehmen eine distanzierte Position zum Iran ein. Daher erklärten einige Beobachterinnen und Beobachter, die Stille des Irans und das Ausbleiben einer iranischen Intervention deute auf eine Einigung zwischen den USA und dem Iran hin. Doch in der derzeitigen Phase, in der die USA politisch-ökonomische Sanktionen gegen den Iran verhängen und Vorbereitungen für eine militärische Intervention treffen, erscheint eine derartige Einigung unmöglich. In dieser Situation würde der Iran viel eher Nuri Maliki aktivieren, um eine neue, dem Iran distanziert gegenüber stehende Regierung zu verhindern. Auf diesem Weg würde der Iran versuchen, die Gründung einer neuen, Iran-nahen irakische Regierung zu befördern.
Die erwartete Offensive Malikis
Der Vertreter der von Nuri Maliki angeführten Kanun Devleti-Koalition, Mensur Beci, erklärte, man sei kurz davor gemeinsam mit der KDP und KYB eine breit aufgestellte Regierung zu gründen. Bereits kurz zuvor hatte der Sprecher der Fetih-Koalition, Ahmed Esadi, verkündet, eine gemeinsame Delegation aus der Fetih-Koalition von Hadi Amiri und Nuri Malikis Kanun Devleti-Koalition würde nach Hewler fahren.
Die Kurdinnen und Kurden zwischen zwei Stühlen
Die Bemühungen der beiden Blöcke, die jeweils dem Iran bzw. der USA nahe stehen, um die Gründung einer neuen Regierung zeigen erneut, wie ausschlaggebend die Kurdinnen und Kurden für das Gleichgewicht im Irak sind. Denn beiden Seiten mussten erkennen, dass eine Regierungsbildung ohne die kurdischen Kräfte unmöglich ist. An dieser Stelle muss jedoch eine ernstzunehmende Gefahr erkannt werden, die aus Sicht der Kurdinnen und Kurden besteht. Eine Beteiligung an einer USA-nahen Regierung würde die Beziehungen zum Iran beschädigen. Das würde zu unabsehbaren Folgen in Südkurdistan (Nordirak) führen. Sich an einer Iran-nahen Regierung zu beteiligen würde jedoch die Beziehungen zu den USA in Mitleidenschaft ziehen. Es erscheint schwer vorstellbar, dass sich die Kurdinnen und Kurden an einer Iran-nahen Regierung beteiligen. Denn der derzeitige Status der kurdischen Kräfte wurde von den USA herbeigeführt und wird bis zu einem gewissen Grad noch immer von ihr abgesichert.
In einer derartigen Situation besteht die drängendste Aufgabe der Kurdinnen und Kurden darin, sich von keiner äußeren Macht abhängig zu machen und stattdessen eine gemeinsame Position gegenüber den Entwicklungen in allen vier Teilen Kurdistans einzunehmen, um die eigenen Rechte zu verteidigen und zu erkämpfen. Geschieht dies nicht, wissen alle, dass sich die vier Teile Kurdistans in eine sehr gefährliche Lage begeben. Denn jedem ist die äußerst gefährliche Lage bewusst, in der sich selbst Südkurdistan befindet, das auf dem Papier als am sichersten gilt und über einen gewissen Status verfügt. Die aktuelle Lage deutet darauf hin, dass sich die politisch-ökonomische Krise in Südkurdistan weiter vertiefen wird; unabhängig davon, ob sich die Kurdinnen und Kurden nun an einer USA-nahen oder Iran-nahen Regierung beteiligen. Es wäre nicht einmal übertrieben, in diesem Zusammenhang von einer erneuten Kriegsgefahr zu sprechen.
Auch wenn der Auftrag zur Regierungsbildung durch den irakischen Präsidenten noch nicht erfolgt ist, bemühen sich alle Parteien bereits um die Festlegung ihrer Koalitionspartner. Die derzeitigen Entwicklungen im Irak zeigen deutlich, dass die Regierungsbildung in dem Land nicht leicht sein wird. Selbst im Falle einer neuen Regierungsbildung wird der Irak sich nicht aus dem Chaos und der Krise befreien können. Zugrunde liegt dieser Krise die Weigerung der politischen Akteure, von dem nationalstaatlichen System abzurücken.
Im Original erschien der Artikel am 24.08.2018 unter dem Titel “Irak’ta hükûmet kurmak kolay mı?” auf der Homepage der Nachrichtenagentur Firatnews (ANF).