Der Journalist Celal Başlangıç über die jüngsten Geschehnisse in der Türkei, 17.10.2018
In den Städten Lice und Hani in der Provinz Diyarbakır und Umgebung wurden in 65 Stadtvierteln Ausgangssperren verhängt. Im Stadtviertel Birlik werden die angefangenen Militäroperationen verstärkt. Die Stadt ist von gepanzerten Fahrzeugen umzingelt. Jede Tür im Viertel wird von den Soldaten kontrolliert. Den Dorfbewohnern wird verboten vor die Haustür zu treten. Die Dorfbewohner bezichtigen das Militär, die Wasserversorgung und die Elektrizität abgeschnitten zu haben. Darüber hinaus sagen die Dorfbewohner ein Problem mit der Verpflegung zu haben und die Tiere nicht mehr füttern zu können, sodass diese allmählich sterben. Ein Vorwurf lautet, im 15 Haneli-Dorf in jedem Haus unter Zwang eine Türkei Fahne angebracht zu haben. Die Mezopotamya Nachrichtenagentur übermittelt die Vorfälle im Stadtviertel Birlik an die Öffentlichkeit. Eine Delegation von HDP-Parlamentsabgeordneten versucht in die Dörfer durchzudringen. Jedoch erlaubt das Militär lediglich den Besuch von außenstehenden Dörfern und verhindert die Delegation beim Durchdringen. Die Delegation fragt die Soldaten, ob die Vorwürfe, dass das Militär unter Zwang türkische Fahnen in den Häusern angebracht habe, wahr seien. Die Antwort, die sie darauf erhalten, ist nur eine der vielen verstörenden Spielchen des Militär in dieser Region:
„Die Dorfbewohner wollten diese Fahnen und wir haben diese ihnen gegeben. Sie haben diese in ihren Häusern, an den Fenstern und in ihren Geschäften angebracht. Sie sind auch Bürger dieses Landes. Warum sollen sie diese nicht aufhängen?“
Die Teilnehmer der Delegation beschreiben, wie sie beim Verlassen der Dörfer von den Soldaten mit Beleidigungen und Provokationen konfrontiert waren. Man will meinen, dass die Situation vor Ort der Situation in den 90ern gleicht, jedoch mit der Zeit sogar diese damaligen Verhältnisse übertrifft. In der Vergangenheit stellte man mit weißgefärbten Steinen die türkische Fahnen an den Berghängen ab und schrieb weiterhin „Glücklich ist derjenige, der sich als Türke bezeichnen kann“. In der Anfangsphase der ersten Legislaturperiode der AKP sagten einige AKP-Funktionäre noch, dass das bloße Zeichnen dieses Spruches auf die Berge nicht als Lösung betrachten werden kann. Nun sehen wird jedoch, dass die AKP-Regierung statt die Fahne auf die Berge abzubilden mehr noch die Fahne in jedes Haus hängen will. Während im Stadtteil Birlik diese Unterdrückung stattfindet, kommt es in der Region zu einer großen Verhaftungswelle. Im Stadtzentrum von Batman werden innerhalb von drei Tagen nahezu 150 HDP´ler festgenommen, darunter auch der Ko-Vorsitzende der HDP für die Provinz Batman. Erdogan, der die Unterdrückung der Bevölkerung vor Ort und der kurdischen Politiker verschärft, setzt mit dieser Entwicklung ein Zeichen und erklärt den Ausgang der Wahlen für die in fünf Monaten stattfindenden Regionalwahlen jetzt schon für ungültig:
„Ich sage das ganz offen. Im März sind die Wahlen. Wenn bei diesen Wahlen Personen, die mit Terrorismus in Verbindung stehen oder in solchen Vorwürfen verwickelt sind, ein Amt gewinnen, und davon gehen wir aus, wird nicht gezögert. Ich werde diese unverzüglich von ihren Ämtern entheben und Zwangsverwalter einsetzten und unseren Kurs fortführen. Es wird nicht damit gewartet.“
Die Gesetze in der Verfassung sind hier hingegen ganz klar. Wer mit solchen Vorwürfen belastet ist, kann sich gar nicht erst für die Wahlen aufstellen lassen. Mit welchen Mitteln versucht Erdogan hierbei gegen rechtskonform gewählte Vertreter des Volkes vorzugehen und diese durch Statthalter zu ersetzten? Es scheint so, dass Erdogan sich in der künftigen Zeit über die Verfassung und über den Hohen Wahlausschuss hinwegsetzt und sich an seiner eigenen Verfassung orientiert. Im Grunde genommen fürchtet Erdogan die kommenden Wahlen. Bei den Regionalwahlen 2014, als auch bei den Parlamentswahlen am 24. Juni kam es für Erdogan jeweils zu einem unschönen Ergebnis. Die Wahlprognosen für diese Wahlen zeigen wiederum ein ähnliches Ergebnis. In allen Städten und Provinzen, in denen die offiziellen Wahlvertreter durch Erdogans Zwangsverwalter abgesetzt wurden, zeigt sich eine konstante Unterstützung der HDP. Man nimmt sogar an, dass die HDP in 20 weiteren Städten die Mehrheit stellen kann und somit an Unterstützung gewinnt. Denn die „Zwangsverwalter-Politik“ Erdogans war hierbei nicht erfolgreich. Natürlich ist sich Erdogan dessen bewusst. Dazu hatte uns der Hürriyet-Kolumnist Aldülkadir Selvi mit einem Beitrag einen Blick hinter die Kulissen gewährt:
„Als Erdogan verstand, dass er in den Städten, die von den Zwangsverwaltern kontrolliert wurden, trotz Investitionen in die Region keine Unterstützung durch die Bevölkerung erfuhr, verlangte er weitere Maßnahmen in dieser Region.“
Um dieser drohenden Niederlage entgegenzuwirken, sagte Erdogan, dass er, „falls sie [die DBP-Abgeordneten] wiedergewählt werden, wieder Zwangsverwalter einsetzen“ werden würden. Zwei Tage später fing die große Verhaftungswelle in der Region statt. Mit einer Liste von 150 Personen begann die Menschenjagd der türkischen Polizei. In den Händen hatten die Behörden nur die Aussage eines geheimen Zeugen. In den Abendstunden wurden die Häuser der aufgelisteten Personen gestürmt. Über 130 Journalisten und Politiker wurden auf eine verstörende Art und Weise festgenommen. Der Ko-Vorsitzende der HDP Sezai Temelli beschrieb die in Diyarbakir stattfindende Verhaftungswelle und Unterdrückung wie folgt:
„Ihr brecht die Türen von unseren Freunden auf, die sogar bereit sind euch die Türen zu öffnen und nimmt diese fest. Ihr versucht durch das Aufbrechen der Türen ein Zeichen zu setzen. Aber nicht nur die Türen wurden aufgebrochen, sondern alle, bis hin zu den Kindern, wurden gewalttätig angegangen und die Waffen auf die Köpfe angebracht. Wir zählen Angriffe, Folter und sogar das Vorgehen gegen Kinder. Die angebrachten Handfessel an unserer Freundin Derya Aslan wurde mit einem Messer aufgeschnitten. Dabei wurde sie von dem Messer verletzt. Das Haus unserer Co-Bürgermeisterin Gülay Özavci wird gestürmt, um ihren Ehemann festzunehmen. Er wird dabei gefoltert und gegen den Rücken getreten. Genau in diesen Abendstunden wird unseren Freundinnen, die noch ihre Schlafkleidung tragen, das Umziehen verwehrt. Unser Freund Hilmi Aydogdu erleidet bei der Festnahme einen Herzinfarkt. Er befindet sich zurzeit auf der Intensivstation. Er wurde jedoch zunächst an der Behandlung durch die Polizei gehindert. Unser Freund hätte hierbei sein Leben verlieren können.“
Es wird klar, dass bis zu den Regionalwahlen im März 2019, die AKP schon fünf Monate im Voraus die Kampagne „Zwangsverwaltung-Land“ gestartet hat. Man bemerkt, dass die Einschüchterungsversuche Erdogans nicht gewirkt haben, jedoch versucht er gegen die HDP nun eine Mauer von Zwangsverwaltern aufzubauen. All diese Anstrengungen Erdogans sind jedoch nicht nötig. Er sollte einfach ein Gesetz verabschieden das lautet: „Für all die Kurden, die nicht die AKP wählen, und all die HDP´ler, die sich zur Wahl aufstellen, wird das Wahlrecht aberkannt!“
Im Original erschien der Artikel am 12.10.2018 unter dem Titel “ ‘Kürtlere seçme, HDP’lilere seçilme hakkı yok!” auf der Homepage des Nachrichtenportals Artı Gerçek.