Aldar Xelil, Ratsmitglied der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) in Westkurdistan [Nordsyrien], erläuterte gegenüber der Nachrichtenagentur Firat (ANF) die neuesten Entwicklungen in der Syrienkrise. Nach Aldar möchte die Türkei ihren verlorengegangenen Einfluss in Syrien zurückgewinnen. Da ihre bisherige Politik dem nicht genüge getragen habe, setzt die Türkei von nun an auch auf Provokationen.
Xelil unterstreicht, dass die Türkei den Krieg in Syrien will: „Die Türkei will ihren Einfluss in Syrien unbedingt zurückgewinnen. Weil ihre Syrienpolitik, besonders aufgrund der Errungenschaften der Kurden von Westkurdistan [Nordsyrien], fehlgeschlagen ist, setzt sie nun auch auf gefährliche Provokationen.“
Der Beitrag der Türkei an der plötzlichen Eskalation in Syrien
Die Türkei hatte noch Mitte 2010 Syrien versichert, dass sie gleich jeder Entwicklung im Mittleren Osten, auf der Seite von Syrien stehen werde. Die syrische Regierung vertraute auf dieses Versprechen und ließ sich dadurch gewissermaßen hinhalten. Deswegen trafen die letzten Entwicklungen die syrische Regierung unerwartet. Die Türkei hatte Syrien in eine antikurdische Koalition hineingezogen. Das syrische System hat dieses Konzept der türkischen Regierung noch konsequenter umgesetzt als die türkische Regierung selbst: Sie haben Massaker an der kurdischen Bevölkerung verübt, Kurden durch Folter ermordet, Tausende von ihnen festgenommen und Dutzende an die Türkei ausgeliefert. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten wurden hierdurch so intensiv, dass gemeinsame Ministerrunden auf der Tagesordnung standen. Aber weil die Türkei keine aufrichtige Politik führt, hat sie die ab Mitte März 2011 entstehende innersyrische Opposition angefangen zu unterstützen. Durch geheime und offene Versprechungen gegenüber dieser Opposition hat sie auch eine demokratische Entwicklung dieser Opposition unterbunden. Daher muss festgehalten werden, dass ebenso wie die syrische Regierung und die Opposition Schuld an den Toten tragen, auch die Türkei hierfür ihre Schuld trägt. Um diese Aussagen zu untermauern, verfügen wir über genügend Informationen und Dokumente.
Ihr Kurs sollte den Wandel in eine Sackgasse führen
Die Türkei fährt seit eineinhalb Jahren einen Kurs, durch den Syrien auf dem direkten Weg ins Chaos geraten und ein demokratischer Wandel unterbunden werden soll. Die Türkei versucht zudem mit allen Kräften zu verhindern, dass die Opposition in Syrien einen demokratischen Kurs einschlägt. Vor einigen Tagen wurde ein Dokument des türkischen Außenministeriums über die Medien entschlüsselt, in welchem in seinen Grundzügen dieser Plan offensichtlich wird. Aufgrund der inneren Konstellation Syriens konnte dieser Plan der Türkei jedoch nicht erfolgreich umgesetzt werden. Auf die Frage, weshalb denn die Türkei den Wandel in Syrien unterbinden will, kann ganz deutlich geantwortet werden, dass dies mit den Errungenschaften der Kurden im Land zusammenhängt.
Der Wandel in Syrien ist unausweichlich
Mit diesem Wandel werden die Kurden aus Westkurdistan ihre Demokratische Autonomie aufbauen. Und damit einhergehend wird auch die antikurdische Politik der Republik Türkei in Nordkurdistan im großen Umfang ins Leere laufen. Die Türkei weiß das, und versucht deshalb einen neuen politischen Kurs zu fahren. Es gibt klare Indizien dafür, dass mit diesem Kurs auch die Provokationen beginnen werden. Das klarste Indiz hierfür ist der abgeschossene Aufklärungsjet der Türkei. Selbst wenn der Jet nicht abgeschossen worden wäre, würde es heißen „sie haben auf unseren Jet geschossen“.
Der türkische Staat wollte mit dieser Provokation mit einem Stein gleich drei Vögel abschießen:
Erstens: Sie haben den Versuch gestartet, die gesamte NATO für eine Intervention zu gewinnen und sie somit für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Zweitens: Die Türkei fühlt sich gestört von den Beziehungen zwischen Syrien und Russland und wollte deshalb den Versuch starten, die NATO als Bollwerk gegen Russland zu gewinnen. Nachdem das nicht so geklappt hat, traf sich Erdogan umgehend mit Putin, um die Wogen wieder zu glätten. Drittens: Der Zeitpunkt der Provokation wurde bewusst ausgewählt, um das Tagesgeschehen in der Türkei von den Gefechten der türkischen Armee mit den Volksverteidigunskräften HPG abzulenken. Denn kurz vor der Provokation erlitt das türkische Militär große Verluste gegen die Guerillakräfte.
Die Türkei sucht neue Provokation
Weil auch diese Provokation nicht die gewünschte Wirkung gezeigt hat, hat die Türkei nun ihre Soldaten an der Grenze zu Syrien zusammengezogen. Es wurden ja auch genug Lügen verbreitet, um sich eine Legitimation zu verschaffen.
Als nächste Provokation könnten sie nun durchaus die Aktivitäten der kurdischen Freiheitsbewegung in Westkurdistan anführen. Das war auch aus dem entschlüsselten Bericht des türkischen Außenministeriums ersichtlich. Vor zwei Tagen konnte man hierfür auch die ersten Indizien aus den Medien entnehmen. Es war die Rede von einer „PKK-Fahne“ hinter der türkisch-syrischen Grenze. Man sieht folgendes: Die Argumente der Türkei hinsichtlich Syriens basieren auf keinerlei demokratischer Legitimität, und deswegen gelingt es ihr auch nicht, andere Staaten als Unterstützer für ihre Pläne zu gewinnen. Das ist der Grund, weshalb die Türkei nun auf Provokationen setzt. Und bei ihren Provokationen ist vor allem der demokratische Kampf des kurdischen Volkes in ihrem Visier.
Attentate nicht ausgeschlossen
Je mehr die politische Entwicklung in Syrien einen friedlichen Kurs einschlägt, desto aggressiver wird die Türkei ihren eigenen Kurs fahren. Wenn der Wandel in Syrien sich also im Sinne der demokratischen Forderungen der Völker entwickelt, wird die Gefahr aus Ankara zugleich zunehmen. Und diese Gefahr kann durch folgende Formen Gestalt annehmen: Die Türkei kann durch gewisse ihr nahestehenden oppositionellen Gruppen aus Syrien versuchen, den Konflikt zu eskalieren. Sie kann aber auch durch bestimmte Kurden, die nach der Pfeife der Türkei tanzen, versuchen die Situation in Westkurdistan durcheinanderzubringen. Und nicht ausgeschlossen ist auch, dass sie durch ihren Geheimdienst Attentate und Anschläge in Westkurdistan durchführt, um die Lage zu destabilisieren.
Die Lage in Syrien nicht aus der Sicht der AKP bewerten
Solange die Türkei nicht von ihrer Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegenüber der Kurden abkehrt, solange wird sie in Syrien auch Befürworterin eines Krieges sein. Aufgrund dessen, ist sie heute auch an der Schwelle zu einem Krieg mit der syrischen Regierung. Es liegt in unserer historischen Verantwortung, die aktuelle Lage in der Region auf Basis der politischen Realität vor Ort richtig zu bewerten. Hierbei dürfen wir uns nicht durch die Worte der AKP-Regierung, hinter denen sich ihre Kriegsabsichten verbergen, irritieren lassen. Die Türkei allein ist nicht der Mittlere Osten. Der Einfluss der Türkei in der Region ist auch keineswegs so groß, wie die Regierung es gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung propagiert. Es ist offensichtlich, welche politischen Zentren auf die Region ihren Einfluss ausüben wollen. Und die AKP-Regierung versucht mit aller Kraft sich in die Nähe dieser Zentren zu rücken und ihre Handlager zu spielen. Deswegen ist es ein Fehler, die Situation in Syrien durch die Brille der AKP zu bewerten. Um die Situation in Syrien zu verstehen, muss man sich die Entwicklung in Syrien und in Westkurdistan selbst anschauen. Das wäre der richtigere Ansatz.
Quelle: ANF, 30.06.2012, ISKU