Vorschläge für den weiteren Verlauf des Lösungsprozesses

Selahattin Demirtaş berichtet im Interview mit Özgür Gündem von Öcalans Vorschlägen für den weiteren Verlauf des Lösungsprozesses

In einem zweiteiligen Interview mit der Tageszeitung Özgür Gündem berichtet der BDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtaş von seinem letzten Besuch auf der Gefängnisinsel Imrali bei dem inhaftierten PKK Vorsitzenden Öcalan. Dieser hat bei dem zehnten Besuch der BDP-Delegation bei ihm aufgezeigt, wie der Lösungsprozess weitergeführt werden kann. Hierzu macht er insbesondere darauf aufmerksam, dass aus dem bisherigen Dialogprozess mit der AKP-Regierung ein Verhandlungsprozess entstehen muss. Im Folgenden geben wir die gekürzte Fassung des ersten Teils der Reportage wieder.

Herr Demirtaş, in der Öffentlichkeit wird rege über die Entwicklung des gegenwärtigen Prozesses diskutiert. Viele begreifen den Stopp des Rückzugs der Guerillakräfte als ein Zeichen für ein Stocken des Prozesses. Wie bewertet Herr Öcalan die Entwicklung des Lösungsprozesses?

Zunächst einmal möchte ich mitteilen, dass wir, mal abgesehen von den bekannten gesundheitlichen Problemen Herrn Öcalans, ihn in einer guten Verfassung gesehen haben. Trotz der widrigen Bedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali versucht er, seinen Widerstand fortzusetzen und seinen Beitrag im gegenwärtigen Prozess zu leisten. Er hat seine Bedingungen stets als eine Art Geiselhaft begriffen. Trotz dessen wurden wir Zeuge davon, dass Herr Öcalan bei jedem unserer Besuche sich noch mehr Gedanken über den Prozess gemacht und noch mehr Anstrengungen für dessen positiven Verlauf unternommen hat. Das haben wir auch bei unserem letzten Besuch gespürt. Herr Öcalan hat mit seinen Analysen und Vorschlägen erneut eine außergewöhnliche Mühe aufgebracht, damit die Wege für einen nachhaltigen Frieden offen bleiben und nicht versperrt werden.
Er hat uns mitgeteilt, dass er seit unserem letzten Besuch zwei Mal mit einer Delegation des Staates zusammengekommen ist. Mit dieser Delegation hat er tiefgreifende Diskussionen geführt. Vor allem die Haltung der AKP-Regierung hat er gegenüber den Delegationsmitgliedern des Staates kritisiert, wie er uns mitgeteilt hat.
Zum Prozess hat er uns folgendes mitgeteilt. Er sagt, dass die Gespräche seit fast einem Jahr, also seit Oktober 2012, anhalten. Dieses Jahr bezeichnet er als Dialogphase. Innerhalb dieser Phase haben beide Seiten die Gedanken und Vorstellungen der Gegenseite kennengelernt. Er bezeichnet dieses Jahr zwar nicht als ein verlorenes Jahr, aber er fordert, dass dieser Prozess nun auf einem neuen Niveau, in Form eines Verhandlungsprozesses fortgeführt wird. Mittlerweile hat man die Einstellung des Gegenübers zu Genüge kennengelernt. Von nun an müsse über die Umsetzung der Vorstellungen diskutiert werden. Das hat Herr Öcalan sowohl in seiner Botschaft an die Öffentlichkeit als auch in einem Brief an die Regierung mitgeteilt. Er wartet nun auf die Antwort der Regierung hierauf. Zugleich macht er auch darauf aufmerksam, dass er unter den gegebenen Bedingungen als ein Hauptakteur des Verhandlungsprozesses seiner Rolle nicht gerecht werden kann.

Was sind die Inhalte der Vorschläge von Herrn Öcalan?

Er führt seine Vorschläge unter drei Titeln wie folgt aus: „Wenn es zu Verhandlungen mit mir kommen soll, dann müssen auch die Mittel für diese Verhandlungen gegeben sein.“ Wie sehen diese Mittel aus? Zunächst einmal spricht er von einer rechtlichen Veränderung, welche ermöglicht, dass die staatliche und gesellschaftliche Gewalt beendet wird. Das ist sein erster Vorschlag. Das könnte beispielsweise mit einer grundlegenden Veränderung der Antiterror-Gesetzgebung einhergehen. Wenn Herr Öcalan auch persönlich bei der Auslöschung der Gewalt als Mittel zur Verfolgung politischer Ziele eine Rolle spielen soll, und er sieht solch eine Verantwortung für sich, dann müssen ihm die Mittel und Bedingungen hierfür gegeben werden. Er sagt selbst dazu folgendes: „Ich fordere kein Sonderstatut für mich. Auch weise ich Behauptungen, mir würde es lediglich um eine Amnestie für meine eigene Person gehen, deutlich zurück. Mir geht es nicht um eine Amnestie, mir geht es auch nicht darum, dass ich Imrali sofort verlassen kann. Ich will meinen Beitrag für eine Lösung leisten. Ich will meiner Rolle für einen Frieden gerecht werden. Und hierfür müssen die nötigen Bedingungen geschaffen werden.“

Der zweite Titel, unter dem Herr Öcalan seine Lösungsvorschläge zusammenfasst, betrifft demokratische Politikformen. „Wenn wir Gewalt als Mittel abschaffen wollen, müssen Kanäle für eine demokratische Politik geöffnet werden“, so die Worte von Herrn Öcalan. Damit das geschehen kann, schlägt er die Bildung von acht Kommissionen vor. In diesen Kommissionen sollen von der Verfassung und anderen Gesetzesänderungen, über Umweltfragen, Frauenrechte bis hin zu gesellschaftlichen und sozialen Fragen Diskussionen geführt und Vorschläge für Veränderungen gesammelt werden. Das sind alles Themen, die in direkter Verbindung mit der Öffnung der politischen Kanäle stehen.

Das dritte Thema betrifft die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Bildung einer Beobachtungskommission. Letztere soll die Funktion eines Schiedsrichters zwischen den Parteien im Laufe der Verhandlungen übernehmen und beim Auftreten von Problemen in den Verhandlungen gegebenenfalls intervenieren können. Auch soll die Kommission mit beiden Verhandlungsparteien in permanentem Kontakt stehen, wenn nötig ihnen Vorschläge unterbreiten. Diese Kommission sollte sich aus Menschen, die aufrichtig in diesem Prozess Verantwortung übernehmen wollen, zusammensetzen. Die Auswahl der Menschen sollte nicht einseitig, wie im Falle der Kommission der Weisen, von der AKP entschieden werden, auch sollte die Kommission nicht funktionslos und ohne wirkliche Kompetenzen, wie im Falle der Lösungskommission im Parlament, gestaltet werden. Diese Kommission sollte als eine Art drittes Auge den Prozess ständig beobachten, im Falle eines Stockens des Prozesses eingreifen und Vorschläge für eine erneute Öffnung der Verhandlungswege machen.

Diese drei Vorschläge hat Herr Öcalan wie gesagt schriftlich an die Regierung weitergeleitet. Das sind zugleich Vorschläge dafür, dass vom Dialogprozess in einen Verhandlungsprozess übergegangen wird. Er und wir werden verfolgen, wie die Reaktion der Regierung auf diese Vorschläge aussehen wird.

Nun wurde der Rückzug der Guerillakräfte gestoppt, der Waffenstillstand hält allerdings weiterhin an. Wie bewertet Herr Öcalan diese Situation?

Für ihn ist wichtig, dass es keine Kampfhandlungen gibt und der Waffenstillstand weiter anhält. Das ist für Herrn Öcalan ein Zeichen dafür, dass die Möglichkeit für eine Lösung besteht. Er ist davon überzeugt, dass dieser Waffenstillstand unbedingt weiter aufrecht gehalten werden muss. Er glaubt auch, dass eine Diskussion darüber, ob ein Rückzug der Guerilla stattgefunden hat bzw. weiter stattfinden muss, in dieser Phase des Prozesses nicht mehr angebracht ist. Vielmehr sollten Diskussionen darüber begonnen werden, wie diese Menschen aus den Bergen wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Dafür müssen die Bedingungen der Partizipation in einer demokratischen Politik und im sozialen Leben geschaffen werden. Die Diskussionen sollten seiner Meinung nach sich deshalb auf seine drei Vorschläge konzentrieren.

Es gab in der Presse Spekulationen darüber, dass die Regierung ihr „Demokratisierungspaket“ Herrn Öcalan bereits vorgestellt habe. Stimmt das? Und was denkt Herr Öcalan darüber?

Die Behauptung, dass ihm der Inhalt des Pakets bekannt sei, entspricht nicht der Wahrheit. Herr Öcalan glaubt ohnehin nicht, dass ein einseitig geschnürtes Paket, wie dies die AKP gemacht hat, zu einer tiefgreifenden Lösung der Frage führen kann. Eine Lösung muss nach seiner Ansicht über den Weg von Verhandlungen führen. Deshalb erachtet er die Herangehensweise der AKP für inakzeptabel. Sie ist nicht im Sinne von Lösungsverhandlungen. Er kritisiert also die Art und Weise, wie das Paket zustande gekommen ist. Über den Inhalt kann er nichts sagen, weil er diesen ebenso wie der Rest der Öffentlichkeit nicht kennt. Auch die Kritik aus unseren Reihen richtete sich an das Zustandekommen des Pakets.

Quelle: Özgür Gündem, 18.09.2013, ISKU
ISKU | Informationsstelle Kurdistan

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