Cemil Bayık: „Deutschland geht nach reiner Interessenpolitik hart gegen die Kurden vor“

Cemil Bayık, Kovorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), im Gespräch mit Tomas Spahn; im Folgenden veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung des Urhebers das vollständige Interview unter anderem zum Verhältnis der PKK zu Deutschland und den aktuellen Entwicklungen im Mittleren Osten, 11.09.2017

Herr Bayik, im Westen wird die PKK immer noch als eine Terrororganisation eingestuft. Der Westen lehnt sie als legitimen Vertreter der Kurden in der Türkei ab.

Ist diese Betrachtung im Hinblick auf die blutige Vergangenheit der PKK nicht zutreffend?

 Eines möchte ich besonders betonen. Dass die europäischen Länder die PKK immer noch als eine Terrororganisation sehen, hat ausschließlich politische Gründe. Aufgrund einer politisch motivierten Entscheidung wurde die PKK in die Liste der Terrororganisationen aufgenommen. Diese ungerechtfertigte und politische Entscheidung wurde als erstes von Deutschland beschlossen. Im November 1993 wurde dann in Europa das Verbot der PKK ausgesprochen.

1993 ist das Jahr, in dem in Kurdistan ein heftiger und schmutziger Krieg geführt wurde. 17 000 Morde, die bis heute nicht aufgeklärt sind, wurden begangen, tausende Dörfer zerstört und niedergebrannt, tausende Menschen wurden gefoltert und in Gefängnisse gesteckt. Man muss nicht Kurde sein, um sich gegen diese unmenschlichen Angriffe zur Wehr zu setzen, es genügt, ein Mensch zu sein. Vor diesem Hintergrund haben die in Europa lebenden Kurden 1993 mit ihren Aktionen protestieren wollen.

Um die europäische Öffentlichkeit auf diese Realität aufmerksam zu machen, wurden Autobahnen besetzt. Denn Europa unterstützte diesen schmutzigen Krieg. Im Hinblick auf die Gewalt und die unmenschlichen Praktiken in Kurdistan sind die damaligen Protestaktionen der in Europa lebenden Kurden verständlich. Vielleicht waren es illegale Aktionen und die Bürger fühlten sich durch die Autobahnbesetzungen belästigt. Aber in Kurdistan wurde ein Genozid verübt. Die Dörfer der Menschen, in denen sie geboren wurden, dort ihre Wurzeln hatten und lebten, wurden in Schutt und Asche gelegt.

Warum?

Warum wurden Tausende von Morden begangen, die bis heute nicht aufgeklärt sind? Der türkische Staat hat in Kurdistan derart unmenschliche Taten, Unterdrückung und Folter ausgeübt – Ihre Leser wären schockiert, wenn wir dies alles offen aussprechen würden.

 Sie sagen, die Gründung der PKK war eine Notwehrmaßnahme.

 In der Konsequenz der Entwicklung der vom türkischen Staat ausgehenden Gewalt: Ja.

Das PKK-Verbot wurde aufgrund der Protestaktionen der Kurden ausgesprochen, doch Deutschland sollte verstehen, unter welchen Umständen die Proteste stattgefunden haben und diese berücksichtigen. Es ist von zentraler Bedeutung, die Umstände und Gründe zu verstehen, unter denen die PKK gegründet und dann eben auch verboten wurde.

 Hat die PKK also keine Gräueltaten begangen?

 Ohne Zweifel haben in den späten Achtzigerjahren in einigen Dörfern, in denen die Dorfschützer lebten, durch Aktionen, die wir nicht wollten und die wir ablehnten, Zivilisten ihr Leben verloren. Diese Aktionen wurden sowohl vom Führer Apo4, diversen PKK-Kongressen und dem Zentralkomitee verurteilt. Das Töten von Zivilisten betrachten wir als Verbrechen einer kriminellen Bande. Manche der Verantwortlichen dieser Aktionen sind aus der Organisation geflüchtet und andere wurden wegen dieser Taten bestraft. Aus dieser Perspektive ist das Aufrechterhalten des PKK-Verbots gerade wegen dieser Aktionen, die Ende der 80er stattfanden und die von uns verurteilt wurden, offenkundig nicht logisch.

Sie distanzieren sich aber nicht davon, dass die PKK mit Waffengewalt gegen Vertreter des türkischen Staats vorgegangen ist und vorgeht?

Weltweit wurden viele Kriege und auch nationale Befreiungskämpfe geführt. Im 20. Jahrhundert gab es zahlreiche solche Kriege. Wenn man die Kriege des 20. Jahrhunderts, die nationalen Befreiungskämpfe, diese von den Europäern als Freiheitskampf bezeichneten Kriege, genauer untersucht, wird man erkennen, dass die PKK grundsätzlich auf die Menschenrechte geachtet hat. Die PKK hat zu keinem Zeitpunkt Verständnis dafür gehabt, Aktionen gegen Zivilisten zu richten und diese immer verurteilt. Die PKK hat 1994 die Genfer Kriegskonvention mit unterzeichnet und versichert, sich daran zu halten. Seither hält sie sich auch daran. Aus dieser Perspektive ist es eine rein politische Entscheidung, die PKK, die vom kurdischen Volk zum großen Teil unterstützt und als ihre legitime Vertretung angesehen wird, immer noch als Terrororganisation einzustufen. Eine Entscheidung ausschließlich, um die Türkei zufrieden zu stellen.

Die Türkei war und ist Mitglied der NATO, die ein Beistandspakt ist für den Fall, dass eines der Länder angegriffen wird. Ist da der gegen die PKK gerichtete Bann nicht nachvollziehbar?

Richtig, die Türkei ist NATO-Mitglied. Daher ist es verständlich, dass die NATO-Länder im Falle eines Angriffs gegen die Türkei sich in dieser Form verhalten. Jedoch ist es nicht richtig, diese Haltung aus den Zeiten des kalten Krieges heute noch fortzuführen, da der kalte Krieg vorbei ist. Der Kampf der PKK, ihre Aktionen und Ziele sind offenkundig. Die PKK ist eine transparente Organisation. Eine transparentere Organisation als die PKK gibt es nicht. Ihre Selbstkritik übt sie offen aus, ihre Kritik nach außen übt sie auch offen aus, ihre politischen Sichtweisen und Handlungen legt sie klar und offen dar.  Daher denken wir, dass es notwendig ist, dass Europa und der gesamte Westen ihre Haltung gegenüber der PKK ändern. Das wäre die richtige Entscheidung, nicht nur aus Sicht der Kurden, auch aus humanitärer Sicht und im Interesse von Europa. Europa oder Deutschland sollten den Charakter der Kurden, die mit der PKK sympathisieren, ihre Gesinnung und ihr Leben näher anschauen. Das ist vollkommen ausreichend, um zu beurteilen, was für eine Organisation die PKK ist. Halten Sie es tatsächlich für möglich, dass eine Volksgemeinschaft, die mit der PKK sympathisiert, sich für den Geist einer Terrororganisation oder ihre Praktiken instrumentalisieren lässt?

Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel hat die Forderung der Türkei, in Deutschland gegen die PKK verstärkt vorzugehen, akzeptiert. Die Türken fordern vor allem, dass die finanzielle Unterstützung durch die in Deutschland lebenden Kurden unterbunden wird. Diese Forderung wird mit der Behauptung begründet, die PKK würde wie eine Verbrecherorganisation arbeiten. Verhält sich die PKK in Deutschland wie eine Mafiaorganisation?

Es ist unanständig und inakzeptabel, dass Deutschland sich nach den Wünschen des türkischen Staates richtet. Die ganze Welt und auch Deutschland ist über das Verhalten der Türkei im Bilde. Der türkische Staat duldet keinerlei Opposition. Alle oppositionellen Kräfte werden aufs schärfste unterdrückt und bekämpft. Der türkische Staat möchte nicht, dass ein Kurde – ob nun in Syrien, Irak oder Iran, nirgendwo auf der Welt – gemäß seinem freien politischen Willen in Freiheit und Demokratie lebt. Es geht heute nicht mehr nur gegen die Kurden innerhalb der türkischen Staatsgrenzen; die Türkei will, dass die ganze Welt auch gegenüber den Kurden in Syrien so denkt und sich so verhält, wie sie es tun. Das kann doch nicht sein! Deutschland verhält sich in dieser Hinsicht sehr prinzipienlos, inkonsequent. Auf die Forderung der Türkei hin hat sie die Symbole der PYD, YPJ und YPG, die in Rojava8 einen Freiheitskampf führen und in Syrien gegen den IS kämpfen, verboten. Dieses Verhalten, die türkischen Forderungen zu akzeptieren, offenbart, welchen Charakter das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei hat. Wenn es nach der Türkei ginge, sollten Kurden nirgends auf der Welt frei atmen können. Ist es denn nicht bekannt, dass der türkische Staat seine Kurdenpolitik genau so ausrichtet? Das hat auch nichts mit der PKK zu tun. Jedweder anderen kurdischen Organisation gegenüber würde sich die Türkei genauso verhalten. Denn sie verübt einen Genozid, will die Kurden am liebsten ausradieren, akzeptiert ihr Dasein nicht. Im ersten Weltkrieg wurde ein Völkermord an den Armeniern verübt. Soll jetzt mit Unterstützung Deutschlands auch an den Kurden ein Genozid verübt werden? Indem Deutschland auf die Forderungen des türkischen Staates eingeht, trägt es eine Mitverantwortung an der Vernichtungspolitik des türkischen Staates in Bezug auf Kurden. Das muss man offen so benennen. Deutschland muss aufhören, als Helfer bei diesem Genozid mitzuwirken. Denn die Politik des türkischen Staates gegenüber den Kurden ist eine Vernichtungspolitik. Wenn Deutschland die Politik des türkischen Staates gegenüber den Kurden nicht als Vernichtungspolitik betrachten sollte, ist das unanständig. Oder machen es die Interessen Deutschlands notwendig, über diese Vernichtungspolitik hinwegzusehen?

 Und der Vorwurf der mafiösen Vereinigung?

Der türkische Staat fordert also von Deutschland, die finanzielle Unterstützung der Kurden zu unterbinden! Warum? Die Organisationsstruktur der Kurden in Europa ist Deutschland sehr wohl bekannt. Die deutschen Dienste kennen die PKK mindestens so gut wie ich selbst. Sie wissen sehr gut, wie sich die Kurden in Europa organisieren, wie sie leben. Gibt es irgend etwas, was Deutschland über die in Deutschland lebenden Kurden nicht weiß? Wie kann man über eine Gemeinschaft, die sich so transparent wie die Kurden organisiert, behaupten, sie verhielte sich wie eine Mafia?

Es gibt keinen Druck auf kurdische Geschäftsleute, die PKK zu finanzieren?

Ohne Zweifel sympathisieren die Kurden in Deutschland und in Europa, wie Kurden in der Türkei auch, mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Ist es denn nicht verständlich, dass sich die Kurden in Deutschland mit der PKK solidarisieren, wenn selbst die Kurden in der Türkei trotz massiver Unterdrückung und Gewalt dieses tun? Wo doch die meisten Kurden damals in Deutschland Asyl beantragten, weil sie vor dem schmutzigen Krieg des türkischen Staates geflüchtet waren? Also selbstverständlich auch  Sympathisanten und Anhänger der PKK. Viele von ihnen sind ja nach Deutschland geflüchtet, weil sie beschuldigt wurden, Mitglied der PKK zu sein. Mit der Begründung „ich werde beschuldigt, PKK-Anhänger zu sein, in der Türkei kann ich nicht mehr leben” haben viele Asyl beantragt und deutsche Pässe bekommen. Kurden organisieren sich legal und im Rahmen der deutschen und europäischen demokratischen Grundordnung. Und in diesem Rahmen protestieren sie auch gegen die Unterdrückung in Kurdistan.

Blicken wir kurz auf das Verhältnis von Erdogan zum Westen. Wie ist dessen Minderheitenpolitik zu beurteilen.

Der Charakter des türkischen Staates ist so: Wenn er will, kann er einen Genozid begehen und niemand soll dagegen protestieren dürfen. In Amerika haben nicht nur Kurden, sondern auch Armenier und Süryaniler [Hiermit sind die überwiegend aramäischen Christen gemeint], also Minderheiten, die durch den türkischen Staat zu Schaden gekommen sind, gegen Erdogan protestiert. Was tat Erdogan? Nicht einmal das hat er geduldet und hat seine Sicherheitsleute auf die Demonstranten losgelassen und sie zusammenschlagen lassen. Was in Washington geschah, ist in der Türkei tägliche Realität. Sollen die Kurden nicht einmal in Europa dagegen protestieren dürfen? Und es ist doch verständlich, dass Kurden in Europa eine emotionale Bindung zur PKK haben. Aber weder unser Anführer Apo noch die kurdischen PKK-Sympathisanten in Europa haben jemals die europäischen Gesetze mit Füssen getreten oder mit ihren Protestaktionen gegen sie verstoßen.

Kurdische Demonstrationen wirken allerdings auf die Europäer nicht selten aggressiv und bedrohlich …

Es ist doch verständlich, dass die Protestaktionen der Kurden aufgrund der in der Türkei herrschenden Unterdrückung zunehmend emotionaler und stärker wurden. Wenn irgendwo in der Welt einem anderen Volk so viel Unrecht angetan worden wäre, hätten sie in Europa oder anderswo ähnlich, vielleicht sogar noch heftiger reagiert. Denn es geht hier um einen systematischen Völkermord! Es hat politische Gründe, warum die heimatverbundenen Kurden in Deutschland verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden. Denn Deutschland hat mit der Türkei gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen. Im Sinne dieser reinen Interessenpolitik geht man hart gegen die Kurden vor. Aktuell verhalten sich ohnehin viele Länder, die bestimmte Zugeständnisse der Türkei erzwingen oder ihre Beziehung zur Türkei verbessern wollen, feindlich gegenüber der PKK und gegenüber Kurden, greifen Kurden an und ziehen im Gegenzug Vorteile aus der Türkei. Ist das moralisch vertretbar? Es muss aufhören, dass wegen der Interessen mit der Türkei Angriffspolitik gegen die PKK und die Kurden gemacht wird. Das ist weder ehrlich noch moralisch. Wir können diese Herangehensweise nicht akzeptieren. Für uns ist die Haltung Deutschlands und Europas unmoralisch. Europa und Deutschland sollten die Politik des türkischen Staates erkennen. Statt dessen greifen sie Kurden, die sich organisieren wollen, an, nehmen sie fest, stecken die heimatverbundenen Kurden ins Gefängnis! Das ist wahrlich keine Situation, die akzeptiert werden kann.

Innenminister de Maiziere hat jüngst den terroristischen Charakter der PKK öffentlich unterstrichen und ein härteres Vorgehen angekündigt.

Der Innenminister schädigt mit seiner Einstellung und seiner Politik das Image Deutschlands. Dass sich Deutschland auf dieses Niveau begibt, ist inakzeptabel. Kurden haben sich gegenüber Deutschland nie negativ verhalten. Im Nahen Osten kämpfen sie im Geiste unseres Anführers Apo als Kampfeinheiten gegen den IS. Tausende unserer Frauen und Männer wurden zu Märtyrern! Nicht Hunderte, sondern Tausende sind in diesem Kampf gefallen! Europa, die deutschen Bürger sollten, statt die Forderungen des türkischen Staats zu erfüllen, lieber auf die Gefühle der Menschen eingehen, die im Kampf gegen den IS ihr Leben aufs Spiel setzen.

In der Vergangenheit richtete die PKK ihre terroristischen Aktionen auch gegen weiche Ziele. Nutzt die PKK den Terror gegenüber unschuldigen und unparteiischen Menschen immer noch als ein politisches Mittel? Was denken Sie über die „Falken der Freiheit”? Die türkische Regierung beschuldigt diese der terroristischen Aktionen und betrachtet sie als einen Teil der PKK?

Ich betone nochmals, die PKK hatte zu keinem Zeitpunkt das Ziel, ihre Aktionen gegen Zivilisten zu richten. Weder ideologisch noch politisch vertritt sie diese Anschauung. Dies würde ihrer ideologischen und politischen Linie widersprechen. Vielmehr betrachtet sie Aktionen gegen die Zivilbevölkerung als Verbrechen. Wir wollen dieses ausdrücklich betonen. Ende der 80er Jahre hatte die PKK, als einige Personen innerhalb der PKK – genannt die Viererbande – die Zivilisten getötet hatten, um so die türkischen Dorfschützer einzuschüchtern, diese Verbrechen verurteilt, abgelehnt und die Verantwortlichen bestraft.

Die PKK, die kurdische Freiheitsbewegung, ist bereit, gemeinsam mit dem türkischen Staat überall und in jedweder Form von einem Internationalen Gericht zur Rechenschaft gezogen und so es sein soll auch angeklagt zu werden. Ein eigens dafür geschaffenes Gericht soll dann sowohl den türkischen Staat als auch die PKK zur Rechenschaft ziehen können. Unser Anführer Apo hat in den vergangenen Jahren die Gründung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission gefordert. Er hat es nicht nur für die Verbrechen des türkischen Staates, sondern auch für die Praktiken der PKK gefordert. Daher ist es nicht gerechtfertigt, uns immer noch die Frage zu stellen, ob wir den Terror gegen die Zivilbevölkerung als politisches Mittel einsetzen. Das ist für uns inakzeptabel. Allein die Fragestellung ist in Bezug auf die PKK nicht gerechtfertigt und unangebracht.

Also distanziert sich die PKK ausdrücklich von den sogenannten Freiheitsfalken10 und hat mit deren Aktionen nichts zu tun?

Weder das Umfeld noch die Organisation, die sich TAK nennt, hat mit unserer Bewegung etwas zu tun. Wir stehen zu unseren Aktionen und übernehmen dafür die Verantwortung. Die TAK hat mit uns aber nichts zu tun. Doch hat der türkische Staat so viel Unrecht begangen, dass als Reaktion darauf eine Gruppe oder Organisation, die mit uns nichts zu tun hat, mit Aktionen geantwortet hat, bei denen Zivilisten umgekommen sind. So sehen wir das.

Wir verurteilen alle Aktionen, unabhängig davon, von wem sie durchgeführt werden, bei denen Zivilisten getötet werden. Für uns ist es auch in Zukunft inakzeptabel, wenn sich Widerstandsaktionen gegen Zivilisten richten. Jene, die diese Bedingungen unserer Bewegung nicht mittragen konnten, haben sich von uns abgewandt. Manche von ihnen haben sich dem türkischen Staat zugewandt, andere der KDP11 und manche sind einfach weggegangen, wobei wir nicht wissen wohin. Vielleicht sind einige dieser Leute in der Gruppe gelandet, die man TAK nennt. Keinem, der unsere Bewegung verlassen hat, sind wir in irgendeiner Form verpflichtet. Diejenigen, die sich von unserer Bewegung getrennt haben und nun in dieser Organisation sind, mit uns in Verbindung zu bringen, ist wiederum eine bewusst gesteuerte Propaganda des türkischen Staates. Abgesehen davon haben wir bereits früher wiederholt erklärt, dass wir keinerlei Verbindung zu dieser Gruppe oder Organisation haben.

Und doch sind auch bei PKK-Aktionen unbeteiligte Zivilisten ums Leben gekommen.

Leider kam es, wenn auch unbeabsichtigt, vor, dass bei unseren Aktionen, unserem Guerillakampf, Zivilisten getötet wurden. Wir haben dies immer sofort verurteilt und uns dafür entschuldigt. Denn bei den heftigen kriegerischen Zusammenstößen mit dem türkischen Staat, in den Bergen oder in den Städten, sind auch Zivilisten zu Schaden gekommen. Vergangenes Jahr waren sogar Zivilisten, die mit unserer Bewegung sympathisierten, bei einer Aktion gegen einen Polizeiwagen ums Leben gekommen. Das waren Personen, die aus der Untersuchungshaft in einem Polizeiwagen zum Gericht gefahren werden sollten. Selbstverständlich haben wir uns dafür entschuldigt – auch die zivilen Verteidigungskräfte des Volkes haben zur maximalen Rücksicht auf die Zivilbevölkerung aufgerufen, damit diese bei solchen Aktionen, auch in Zukunft, keine Leidtragenden sind. Und alle Aktionen, bei denen Zivilisten umgekommen sind, wurden von uns untersucht. Die HPG ist innerhalb unseres Systems eine autonome Organisation, aber in Bezug auf zivile Opfer vermitteln wir der HPG gegenüber immer wieder unsere Zurückhaltung und Auffassung.

Erdogan hat in der Türkei mit der Verfassungsänderung sein Ziel erreicht: Als ein neuer Sultan die ganze Macht auf sich zu konzentrieren. Könnte dies ein Ende des Krieges gegen die Kurden bedeuten?

Das Referendum am 16. April  war geplant, um im türkischen Staat eine Regierung zu etablieren, die eine Vernichtungspolitik zum Ziel hat. Die Änderungen der neuen Verfassung waren mit Sicherheit auch darauf gezielt, den Kurden gegenüber eine Vernichtungspolitik zu fahren. Das haben wir bereits mehrmals dargelegt. Das Ziel Tayyip Erdogans und der AKP-Regierung war schon immer, alle Hindernisse im Krieg gegen die Kurden in der Türkei und im Nahen Osten aus dem Weg zu räumen und jederzeit allein Entscheidungen treffen zu können und umzusetzen.

Aus diesem Grunde wurde dieses Referendum durchgeführt – die Schaffung einer Regierung, die alle Entscheidungen ohne Hindernisse und Kontrolle sofort umsetzen kann. Obwohl das Referendum abgelehnt wurde, wurde dieses Regime durch Wahlmanipulation legitimiert.

Also erwarten Sie ganz im Gegenteil eine deutliche Verschärfung der türkischen Anti-Kurden-Politik?

Eigentlich sollten die Änderungen, die im Referendum zur Debatte standen, erst in zwei Jahren in Kraft treten. Aber es ist offensichtlich, dass Erdogan und die AKP-Regierung bereits vor dem Referendum ein Vernichtungsregime waren und nach dem Referendum ebenso. Bereits jetzt, also nicht erst 2019, wird das Präsidialsystem installiert. Wie Sie selbst bemerkt haben, nutzt dieses Regime alle schmutzigen Kriegsmethoden, um die kurdische Freiheitsbewegung zu unterdrücken und die Vernichtung der Kurden voranzutreiben. Die Verhaftung tausender Politiker, der Abgeordneten der HDP, die Inhaftierung aller kurdischen Co-Bürgermeister, die Zwangsverwaltung der Gemeinden – all dies ist die Fortsetzung der Vernichtungspolitik gegenüber den Kurden und die Niederschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung. Das ist das Ziel.

Aber es gab schon viele, die dieses Ziel verfolgten. In den 1990ern war es das Trio Çiller-Agar-Güres, das mit seiner faschistischen Regierung die kurdische Freiheitsbewegung niederschlagen und den Völkermord an den Kurden vollenden wollte. Dafür waren ihm alle schmutzigen Kriegstaktiken, alle Methoden des Terrors und der Unterdrückung recht. Das Niederbrennen tausender kurdischer Dörfer und unaufgeklärte Morde belegen dies. Und nun praktiziert die AKP-Regierung eine ähnliche Politik. Schon vor dem Referendum wurden zehn kurdische Städte und Gemeinden dem Erdboden gleichgemacht. Und das vor den Augen Europas und mit den Waffen und der Unterstützung aus Europa!

Und wird Erdogan damit erfolgreich sein? Die PKK wirkt geschwächt und zurückgedrängt in Rückzugspositionen in den irakischen Bergen.

Obwohl immer behauptet wurde, dass die PKK das Frühjahr nicht mehr erleben würde, befindet sie sich gegenwärtig in ihrer stärksten Phase. Trotz all der Unterdrückung und Angriffe verfügt sie über ausreichend Kapazität, um jederzeit in Aktion zu treten. Der türkische Staat hat darauf längst reagiert: Das gesamte kurdische Gebirge, alle Dörfer sind zu Verbotszonen erklärt worden. Die Dorfbewohner dürfen weder zu ihren Feldern noch ihre Häuser verlassen. Eine Stadt, ein riesiges Gebiet, Dutzende Dörfer und Gemeinden werden zu Sperrgebieten erklärt, niemand darf auf die Straße. Man wird gehindert, auf die Straße zu gehen, damit militärische Operationen durchgeführt werden können. Aber wieviel wissen die Europäer darüber? Und doch hat all das zu keinem Ergebnis geführt und wird zu nichts führen. Die kurdische Freiheitsbewegung und unser Volk werden den Geist dieses Vernichtungsregimes, diesen versuchten Genozid ins Leere laufen lassen. Im Moment befindet sich vielmehr die AKP-Regierung in einer schwachen Position. Sie durchlebt ihre schwächste Phase. Falls die demokratischen Kräfte gemeinsam handeln und ihr Engagement gegen den Faschismus erhöhen, wird diese Regierung nicht mehr lange an der Macht bleiben können.

Betrachten wir die Situation im Nahen Osten. Die Peshmerga der föderativen kurdischen Regierung im Nordirak und die YPG in Rojava sind Teil der internationalen Anti-IS Koalition. Was hat die PKK in dieser militärischen Operation für eine Funktion?

Es stimmt, die YPG ist die effektivste Kraft im Kampf gegen den IS. Und die Guerilla hat auch in Shengal, Maxmur, Hewler und in Kerkuk gegen den IS einen erfolgreichen Krieg geführt. Die Peshmerga16 des autonomen kurdischen Gebietes sind im Kampf gegen den IS nicht so wirkungsvoll. Sie wollten sogar schon Hewler dem IS überlassen.

Daraufhin war die Bevölkerung von Suleymaniyye in Sorge, dass auch sie dem IS überlassen werden könnten. Die Guerilla ist eingeschritten und hat verhindert, dass Hewler evakuiert wurde. Mesud Barzani ist deshalb nach Maxmur gegangen und hat sich persönlich bei der Guerilla bedankt. Wenn der IS heute auf dem Rückzug ist, dann ist das der kurdischen Freiheitsbewegung, den „Demokratischen Kräften Syriens” innerhalb der YPG und der YPG selbst zu verdanken, die ihren Kampf ideologisch an der politischen Linie von Abdullah Öcalan ausrichtet. Nur, weil sie den IS schwächen und Erfolge verbuchen, wollen nun alle dort gegen den IS kämpfen. Der IS ist auf dem Rückzug. In Syrien erleidet er gegen die YPG und QSD  ständig Niederlagen. In Shengal, Kerkuk, Maxmur haben sie gegen die Guerilla verloren und sind erfolglos.

Ist die syrische YPG Teil der PKK, wie von Erdogan ständig behauptet wird und womit er seinen Kampf gegen die syrischen Kurden begründet?

Ohne Zweifel bewegt sich die YPG ideologisch auf der Linie unseres Anführers Apo. Aus dieser Perspektive steht die YPG unserer Bewegung sowohl politisch als auch ideologisch nahe. Aber als Organisation oder Gruppierung sind sie unabhängig. Die Motivation ihres Kampfes gegen den IS schöpfen sie aus den Ideen des Anführers Apo. Der Kampf der PKK in ganz Kurdistan und dem Nahen Osten hat auch den Kampfgeist dieser Kräfte beeinflusst. Daher spielt unsere Bewegung eine große Rolle im erfolgreichen Kampf gegen den IS. Diese Tatsache muss anerkannt werden.

Könnte dieses die Grundlage für ein unabhängiges, demokratisches Kurdistan sein, so wie es die Alliierten in den 1920er-Jahren zugesagt hatten?

Ausgehend von der Situation im Kampf gegen den IS und den daraus entstandenen Beziehungen können wir zur Frage, ob die Einlösung des Versprechens der Zwanzigerjahre, ein unabhängiges demokratisches Kurdistan zu gründen, nun möglich wäre, folgendes sagen: Wir vertreten nicht die Ansicht, dass für Völker eine freie und demokratische Nation nur mit der Gründung eines Staates möglich ist.

Im Gegenteil, wir sagen, dass ein Staat nicht der entscheidende Faktor ist, um in Freiheit und Demokratie zu leben. Wir hatten früher das Ziel, ein unabhängiges, demokratisch vereintes Kurdistan zu schaffen. Und dieses Ziel haben wir vorrangig verteidigt. Die Mehrheit der Organisationen in Kurdistan war für ein föderatives System.

Wir lehnten dies ab und beharrten auf einem unabhängigen, vereinten und demokratischen Kurdistan. Wir dachten, Freiheit und Demokratie wären nur so zu erlangen. So denken wir heute nicht mehr. Wir glauben, dass Freiheit und Unabhängigkeit nur durch echte Demokratisierung verwirklicht werden kann. Wir glauben daran, dass Freiheit und Unabhängigkeit nur in dem Maße möglich sind, wie Demokratisierung und Demokratie vorankommen. Deshalb sind wir der Ansicht, dass die Freiheit der Kurden unmittelbar an die Demokratisierung der Türkei, der Demokratisierung Syriens, des Irak und Iran geknüpft ist.

Das soll heißen, die Freiheit der Kurden wird ausschließlich über die Demokratisierung des Nahen Ostens möglich werden?

Wir gehen davon aus, dass nur durch eine Demokratisierung der Region für die Kurden ein Leben in Freiheit, Demokratie und Sicherheit gewährleistet werden kann. Daher betrachten wir das Problem in der Türkei auch auf Grundlage der Demokratisierung der Türkei. Für uns bedeutet eine demokratische Türkei ein freies Kurdistan. Die Kräfte in Rojava und in anderen Regionen Nord-Syriens, die auf der Linie von Anführer Apo kämpfen, fordern ebenfalls ein demokratisches Syrien und eine demokratische Föderation in Nord-Syrien. Ihr Ziel ist, in einer demokratischen Nord-Syrien-Föderation ein Leben in Freiheit und Demokratie zu verwirklichen. Daher ist es aus unserer Perspektive richtig und realistisch, dass die Basis ein freies Kurdistan ist, um die Länder dieser Region zu demokratisieren. Ein freies Kurdistan ist auch auf Basis einer autonomen Demokratie, in einer Föderation oder in einer anderen politischen Form möglich.

Wir haben kein Programm, das definiert, wie die vier Teile kurdischer Gebiete durch Änderung bestehender Grenzen vereint werden sollen. Wir unterstreichen aber auch, dass unsere Bewegung die freiheitlichsten und unabhängigsten Ideen vertritt.

Demokratisches Kurdistan gleich Demokratische Türkei, Demokratisches Kurdistan gleich Demokratischer Irak, Demokratisches Kurdistan gleich Demokratischer Iran, Demokratisches Kurdistan gleich Demokratisches Syrien! Unsere aktuelle ideologische und politische Betrachtungsweise der kurdischen Frage erfolgt in genau diesem Rahmen.

Viele der PKK-Kader sind in Europa geboren und aufgewachsen. Hat das Einfluss auf die PKK gehabt?

Sicher sind viele der Kader der PKK in Europa geboren und aufgewachsen. Wir können sogar sagen: Alle Kader der PKK kennen Europa und haben dort gelebt. Das hat auch positiven Einfluss auf die PKK gehabt. Natürlich ist das ausbeuterische und kapitalistische System Europas voller negativer Komponenten. Wir sind eine anti-kapitalistische Bewegung, aber wissen auch um die Geschichte Europas und seinen Kampf um Demokratie und seine demokratischen Revolten.

Die Auswirkungen dieser Geschichte haben viele von uns in Europa erfahren. Daher ist es für uns von Vorteil, dass viele Kader der PKK Europa kennen oder dort geboren und aufgewachsen sind. Dadurch haben wir gelernt, die Dinge auf einer tieferen Ebene, aus einer breiteren Perspektive und realistischer zu betrachten. Außerdem ist es für einen echten Sozialisten unabdingbar, dass er das Wesen des Kapitalismus mit all seinen Facetten kennengelernt hat. Und das kann man am besten in Europa erfahren und lernen. Deshalb bewerten wir es als Vorteil, dass wir in Europa geboren und aufgewachsen sind und Europa kennen.

Ist Ihrer Meinung nach für die PKK eine marxistisch-leninistische Diktatur immer noch die Grundlage für einen unabhängigen kurdischen Staat?

Allein schon diese Fragestellung verrät, dass man die politische Linie der PKK nicht mehr verfolgt hat, über die ideologischen und politischen Veränderungen der PKK nicht im Bilde ist. Wir sind eine demokratisch-sozialistische Bewegung, eine basisdemokratische Bewegung. Wir sind der Meinung, dass der Sozialismus ohne Demokratie nicht erreicht werden kann. Sozialismus ist nur durch Demokratisierung möglich. Die Grundlage für ein sozialistisches System in jedem Land ist die Demokratisierung der Nation, die demokratische Zivilgesellschaft, ein demokratisch-föderales System. Wir denken, all das muss vor dem Sozialismus verwirklicht werden. Wir lehnen nicht nur die Diktatur ab, sondern auch den Staat: Unserer Meinung nach ist das Regieren die Quelle allen Übels.

Das klingt eher nach Bakunin als nach Marx und Engels.

Natürlich respektieren wir die geistigen Väter des Sozialismus, Marx, Engels und Lenin. Sie hatten die Vision einer Gesellschaft, die ohne den ausbeuterischen oder unterdrückerischen Kapitalismus möglich sein sollte.

Leider beinhalteten ihre Paradigmen einen Fehler. Nämlich die Idee, Sozialismus mit einem Staat realisieren zu wollen. Auch die Diktatur des Proletariats ist unserer Meinung nach ein Fehler, den Sozialisten nicht akzeptieren sollten. Aus dieser Perspektive sind wir eine Bewegung, die den Sozialismusbegriff und die Paradigmen von Marx, Engels und Lenin am meisten kritisiert. Wir respektieren sie, schätzen ihre Haltung und ihren Kampf gegen den Kapitalismus, finden aber, dass ihr Verständnis von Sozialismus einen großen Mangel aufweist. Mit einer Regierung, einem Staat, kann der Sozialismus nicht erreicht werden. Nur durch Demokratie ist Sozialismus möglich. Ohne die Demokratisierung, und zwar auf Basis der Befreiung der Frau, wird der Sozialismus nie erreicht werden können. Wir sind für eine echte Demokratie, eine radikale Demokratie, die von einer gut organisierten Gesellschaft getragen und im wahrsten Sinne des Wortes vom Volk getragen wird. Wir lehnen daher alle Formen von Autorität aufs Schärfste ab.

Also ein Staat ohne staatliche Institutionen? Etwas schwer vorstellbar, vielleicht.

Alle Diktatoren begehren die Regierung und den Staat. Eine Diktatur wird für den Staat, für die Regierung errichtet. Deshalb lehnen wir Staat und Regierung ab. Sowohl theoretisch, ideologisch als auch praktisch. In diesem Sinne haben wir ein echtes Verständnis von Sozialismus. Wir sind der Ansicht, dass das Marx‘sche, Engel‘sche und Lenin‘sche Verständnis vom Sozialismus Komponenten beinhaltet, die mit dem echten Sozialismus im Widerspruch stehen. Wir denken, dass nur eine Demokratisierung auf Basis einer gut organisierten Zivilgesellschaft mit dem Sozialismus übereinstimmt. Wirkliche Demokratisierung ist Sozialismus. Oder Sozialismus ist wirkliche Demokratisierung. Einen anderen Begriff von Sozialismus lehnen wir ab. Wir verteidigen demnach auf Basis einer Zivilgesellschaft ein demokratisch-föderales System gegen den Staat.

Wie beschreiben Sie unter diesem Aspekt die Rolle der PKK heute?

Wir beschreiben die Rolle der PKK im Allgemeinen als die demokratisierende Kraft des Nahen Ostens. Denn alles was Kurdistan betrifft ist universell, vor allem aber auch regional. Wenn man sich der Kurdenfrage engmaschig nähert, sie nur auf die Grenzen von Kurdistan reduziert, kann man die Kurdenfrage nicht lösen. Daher behandeln wir dieses Thema im Rahmen der Demokratisierung der Türkei, Syriens, Iraks und des Irans. Das empfinden wir als eine historische Aufgabe, da in der Geschichte des Nahen Ostens viele Kulturen, sehr bedeutende Werte entstanden sind und sie die Wiege der menschlichen Zivilisation ist. Deshalb wollen wir auch die Region gemäß ihrer Geschichte wieder zum Zentrum einer demokratischen Zivilisation machen. Hinsichtlich Demokratisierung und Freiheit ist es unser Ziel, einen Nahen Osten zu schaffen, der beispielhaft für die ganze Welt ist.

Das ist allerdings ein sehr hoher Anspruch.

Ohne Zweifel. Wir wollen Kurdistan und die kurdische Gesellschaft befreien. In dieser Sache haben wir auch schon große Schritte gemacht. Aber wir wissen auch, dass diese Befreiung nicht getrennt von der Demokratisierung und Befreiung der Länder in der Region gesehen werden kann. Deshalb ist unser Kampf ganzheitlich. Unser wahres Ziel ist, auf Basis der Demokratisierung der Türkei und der Demokratisierung in Syrien Kurdistan zu befreien.

All das können wir nur verwirklichen, indem wir Kurdistan demokratisieren und die demokratische Revolution dort weiterführen. Ohne die Demokratisierung und die demokratische Revolution in Kurdistan ist es nicht möglich, die Türkei, Syrien, Irak und den Iran zu demokratisieren. Die Demokratisierung des Irak führt über die Demokratisierung Kurdistans, auch die von Syrien, des Iran und der Türkei. So sehen wir das heute.

Welche Rolle spielt für Sie die Frau in der Gesellschaft?

Wir sehen unsere Aufgabe darin, den Nahen Osten auf Basis der Gleichberechtigung der Geschlechter und einer ökologischen Gesellschaft zu einer Region zu verhelfen, in der die Demokratie und eine demokratische Zivilisation einen entscheidenden Schritt nach vorne machen.

Die politische Vision, die auf friedlichem Wege erreicht werden soll, ist das eine. Das andere ist die Frage, ob man dieses Ziel mit terroristischen Mitteln erreichen möchte. Viele Politiker nicht nur in Deutschland halten die PKK nach wie vor für eine Terrororganisation, die für einen unabhängigen Staat kämpft.

Wir sind keine Organisation, die für einen unabhängigen Staat kämpft. Ja, wir kämpfen für Unabhängigkeit und Freiheit, aber Unabhängigkeit und Freiheit sehen wir nicht mehr in einem Staat. Wir sprechen von einem demokratischen und freien Kurdistan. Und mit einem demokratischen und freien Kurdistan meinen wir keinen Staat. Daher ist unser Kampf gegen die Türkei nicht gegen das türkische Volk oder die Türken gerichtet. Wir kämpfen gegen die antidemokratischen Regierungen der Türkei. Wir kämpfen darum, dass sich die Türkei demokratisiert. Im Kampf um die Demokratisierung in der Türkei sind wir die wichtigste Dynamik. Wenn es die PKK nicht gäbe, wären heute sämtliche demokratischen Kräfte in der Türkei ausgelöscht. Wenn es in der Türkei heute überhaupt noch einen demokratischen Kampf und eine entsprechende Dynamik gibt, so hat dieses durch unseren Kampf überlebt.

Wie würden Sie nun ihre eigene Organisation beschreiben? Wie stellen Sie sich die Zukunft des Nahen Osten vor?

Wir sehen uns nicht als Feinde der Türkei. Auch nicht als Feinde des Iran, Iraks und Syriens. Wir wollen, dass die Kurden mit den Völkern der Region in Frieden und Brüderlichkeit leben. Wir sind gegen einen Nationalstaat. Unser Verständnis von Nation ist demokratisch. In einer demokratischen Nation gibt es keinen Geist des Nationalstaats. In einer demokratischen Nation gibt es demokratische Führungsstrukturen. Wir wünschen uns Länder, in denen alle Völker ihre Kultur und Identität in Freiheit leben können. Aus diesem Grund haben wir in der Türkei die demokratische Autonomie gefordert. Es gibt auch in Syrien und Irak Bewegungen, die dort im Sinne einer demokratischen Nation eine Föderation anstreben. Wir verstehen uns als ein Volk, das eine demokratische Nation bevorzugt, fern von klassisch nationalistischen Begriffen wie „Türkentum” oder „Kurdentum”, und dem Ziel, mit den Völkern, mit denen wir zusammenleben, Demokratisierung und Freiheit zu erreichen.

Wir wünschen, dass alle Religionen frei und demokratisch miteinander leben können. Im Nahen Osten wurden die Religionen gegeneinander ausgespielt und ethnische Rivalitäten geschürt. Wir kämpfen entschieden dagegen. Im Nahen Osten gibt es nur eine Lösung und die heißt demokratische Nation. Das heißt, ein Naher Osten, in dem die unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gemeinschaften im Verständnis einer demokratischen Nation miteinander in Frieden leben.

Hat der Nahe Osten überhaupt eine Zukunft?

Wir sehen die Zukunft des Nahen Ostens positiv. Rückständigkeit hat im Nahen Osten versagt. Ethnische, sektiererische und konfessionelle Kriege haben versagt. Aus diesem Grunde gibt es im Nahen Osten zur Lösung der Probleme keine Alternative zum Geist demokratischer Nationen. Das ist sowohl die Linie des Anführers Apo als auch unsere. Wir glauben nicht daran, dass die Staaten im Nahen Osten zu Stabilität gelangen und demokratisiert und befreit werden können, indem sie sich weiter spalten. Wir treten aber dafür ein, dass die Völker des Nahen Ostens, wenn sie auf Grundlage ihrer kulturellen Autonomie, Freiheit und Demokratie leben, eine starke Einheit bilden können. So wie es in Europa der Fall war, wo man aus den Religions- und Konfessionskriegen gelernt, Lehren aus den beiden Weltkriegen gezogen und sich auf ein demokratisches Nationenverständnis geeinigt hat.

So wie man in Europa zur Überzeugung gelangt ist, dass unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen nebeneinander leben können, Grenzen bedeutungslos werden oder gemacht wurden, so ist dieser Prozess auch im Nahen Osten im Gange. Durch Rückständigkeit, Kriege und ethnische Konflikte ist der Nahe Osten am Boden zerstört. Daher glauben wir, dass die Führungslinie Abdullah Öcalans und unsere auch mit den Freiheits- und Demokratiebestrebungen der Völker einhergeht. Auf Basis des demokratischen Nationenverständnisses wird im Nahen Osten Freiheit und Demokratie möglich sein. Diesbezüglich blicken wir unbedingt mit Hoffnung auf die Zukunft des Nahen Ostens. Am Ende des Tunnels ist Licht. Wir befinden uns im Moment am Beginn eines Prozesses der Aufklärung und mit dieser Überzeugung schreiten wir sowohl in Kurdistan als auch mit den Völkern unserer Nachbarschaft weiter Richtung Demokratisierung und Befreiung des Nahen Ostens.

Herr Bayik, herzlichen Dank, dass Sie es mir ermöglicht haben, mit Ihnen dieses ausführliche und aufschlussreiche Gespräch zu führen.


Das Interview mit Cemil Bayik wurde erstveröffentlicht in „Tichys Einblick“ Ausgabe 9/2017.

Sämtliche Rechte an Interview und begleitenden Texten: ©2017 Tomas Spahn / FoGEP

„Das vollständige Interview mit Cemil Bayik erscheint Ende September als Reader in den Sprachen deutsch, kurdisch und türkisch. Es wird eingeführt mit begleitenden und erklärenden Texten von Tomas Spahn. ISBN-Bestellnummer 978-3-943726-85-5“