Kurdischer Staat: „Cui bono?“ – Wem nutzt es?

karte-ausschnitt_mittlere-ostenDevriş Çimen, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 25.06.2014

Eines ist klar, nach all der Unterdrückung, Verleugnung, den Massakern, der Folter und den Zwangsumsiedlungen, mit denen die kurdische Bevölkerung seit gut einem Jahrhundert massiv konfrontiert ist, stellt der Wunsch nach einem eigenen kurdischen Staat einen für die meisten KurdInnen sehnsüchtigen Traum dar. Ein Traum, der zugleich Alpträumen den Weg ebnen könnte. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass die KurdInnen auf Siedlungsgebiete im Iran, in der Türkei, im Irak und in Syrien aufgeteilt sind – und sie in diesen Staaten von einer Politik der Ausbeutung, Kolonialisierung, Assimilation und Unterdrückung betroffen waren und sind – besteht dieser Wunsch. Völkerrechtlich besteht ohnehin das Recht auf Widerstand gegen anhaltendes Unrecht und Tyrannei und es gibt das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Doch ist ein Nationalstaat die einzige Möglichkeit, den KurdInnen eine freiheitliche und friedliche Zukunft zu garantieren, oder gibt es auch andere Perspektiven und Wege?

Kurdistan: „Ist dieses Land noch zu verhindern?“
Es gibt mehrere Herangehensweisen an diese Frage. Schauen wir uns einmal an, was dazu in den deutschsprachigen Medien momentan zu finden ist. Wird über das Thema KurdInnen berichtet, greifen die JournalistInnen oft darauf zurück, Angst vor einem kurdischen Staat zu schüren. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel aus der tageszeitung (taz) vom 19. Juni: ((http://taz.de/Kurden-im-Irak/!140652/)) „Der kurdische Staat rückt näher“. Oder erinnern wir uns an die Juli-Ausgabe (2013) der Zeitschrift Zenith, die mit der Frage konfrontierte: „Ist dieses Land noch zu verhindern?“ ((http://www.zenithonline.de/fileadmin/downloads/zenith_03_2013_wirtschaft.pdf))

In dieser Ausgabe beschäftigte man sich mit der Frage der Etablierung eines möglichen Kurdistans, das sich über die Grenzen der Staaten Irak, Türkei, Iran und Syrien erstrecken würde. Wenige Tage später erschienen Chefredakteur Daniel Gerlach zufolge ein paar „freundliche“, aber bedrohliche türkische Herren im Redaktionsbüro von Zenith, die die Redaktion „unter die Lupe nehmen“ wollten und anschließend in einem Diplomatenfahrzeug davonfuhren. Die Juli-Ausgabe führte zu großer Empörung in der Türkei und mehreren Hackerangriffen auf die Website von Zenith.

ISIS sorgt für Kurdistan-Debatte?
Aktuell gibt es wieder mehrere Berichte über einen möglichen kurdischen Staat, nachdem die islamistische Organisation „Islamischer Staat Irak und Syrien“ (ISIS, auch „Islamischer Staat Irak und Levante“, kurz ISIL genannt) die Stadt Mossul eingenommen hat. „Die Türkei könnte einen kurdischen Staat akzeptieren“, hieß es in der Überschrift zu einem Interview mit der Politologin Gülistan Gürbey in der BAZ vom 17. Juni. ((http://bazonline.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Die-Tuerkei-koennte-einen-kurdischen-Staat-akzeptieren/story/20351814)) Die Rede ist von neuen Entwicklungen in der ölreichen Stadt Kirkuk, die nach dem ISIS-Einmarsch in Mossul unter kurdischer Kontrolle steht. Die Regierung in Ankara sieht scheinbar kein Problem darin, dass sich das irakische Kurdistan in einen wohlhabenden eigenständigen Ölstaat verwandeln könnte – solange durch diese Kontrolle eigene Profite gesichert werden.

Widersprüchliche Vorstellungen von einem „Kurdistan“
Doch wie kommt es dazu, dass die türkische Regierung mit einem Teil der KurdInnen „zufrieden“ ist und wirtschaftlich zusammenarbeitet – jedoch die kurdische Bevölkerung im eigenen Land weiterhin systematisch unterdrückt und die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen der KurdInnen in Syrien (Rojava) mit Unterstützung der islamistischen ISIS und des syrischen al-Qaida Ablegers Al-Nusra-Front sogar noch offensiv bekämpft?

Ist es die gegenwärtige Bedrohung durch ISIS, welche die türkische Regierung von ihrer strikten antikurdischen Politik abbringt, oder sind es eher die guten wirtschaftlichen Beziehungen mit der Regionalregierung Kurdistan (KRG), allen voran der PDK (der Partei Barzanis)? In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass seit kurzem Öl durch die neu gebaute Pipeline aus dem kurdischen Autonomiegebiet unter Leitung der KRG in die türkische Hafenstadt Ceyhan fließt. Eine Million Barrel Rohöl flossen auf diesem Weg nach Europa u. a. nach Italien und Deutschland. „Weitere Verkäufe“ wurden Ende Mai 2014 angekündigt. Die Einnahmen daraus werden auf einem Konto der KRG bei der türkischen Halkbank angelegt. Genau diese, nicht von der Zentralregierung in Bagdad genehmigten, eigenständigen Exporte von Rohöl sind ein wichtiger Streitpunkt zwischen KRG und Zentralregierung. Es ist eine ökonomische Realität, dass Ölfirmen wie Exxon Mobil ihre Geschäfte lieber direkt mit der kurdischen Region abschließen; zu großzügigeren Konditionen und mit weniger Bürokratie – wenngleich nicht unbedingt weniger Korruption.

„Selbst wenn der Staat ein Esel ist, steige nicht auf!“
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Türkei und KRG sind vielfältig und beschränken sich nicht nur auf Waren (Lebensmittel und viele weitere Produkte des täglichen Bedarfs werden aus der Türkei importiert), sondern erstrecken sich auch auf Dienstleistungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. In vielen Bereichen ist die KRG mittlerweile von der Türkei abhängig und entwickelt kaum eine eigenständige und unabhängige Wirtschaft.

Kommen wir wieder zur Frage nach einem kurdischen Staat zurück.

Für die KurdInnen im Irak, der Türkei, Syrien und im Iran bedeutet die „Eingliederung“ in den jeweiligen „Staat“ noch immer hauptsächlich Leid, Schmerz, Folter, Massaker, Gewalt, Betrug und Ausbeutung. Der jahrzehntelange Kampf um Grundrechte sowie Selbstbestimmung ist immer mit Gewalt unterdrückt und bekämpft worden. Diese historische Erfahrung weckt bei ihnen die Sehnsucht nach einem eigenen Staat – aber ist das der einzig mögliche und anstrebenswerte Weg?

Ich denke nicht! Den KurdInnen würde ein Staat mehr schaden als nützen. Es gibt ein kurdisches Sprichwort: „Selbst wenn der Staat ein Esel ist, steige nicht auf!“ Es hat einen wahren Kern, aufgrund dessen vor allem heutzutage, bei wachsendem politischem Bewusstsein der kurdischen Bevölkerung, großes Misstrauen gegenüber einem eigenen Staat herrscht.

Wirtschaftlich und politisch abhängiger Staat
Ein wirtschaftlich und politisch abhängiger Staat bedeutet für die KurdInnen keinen Fortschritt. Vielmehr wären sich wirtschaftlich und politisch selbst verwaltende Regionen in den jeweiligen Staaten – in Zusammenarbeit mit den weiteren dort lebenden Volksgruppen und Religionsgemeinschaften – eine sinnvollere und vor allem eine demokratischere Alternative. Ein großer Teil der politischen Institutionen der KurdInnen fordert Anerkennung, Respekt sowie ein würdevolles und freies Leben.

Kurdischer Status?
Eigentlich ist es diesbezüglich auch schon seit langem notwendig, nicht ÜBER die KurdInnen zu reden und von oben herab zu bestimmen, sondern MIT ihnen über ihren Status und ihre Vorstellungen zu sprechen. Mit Separationsvorwürfen ihnen gegenüber oder den angeblich langfristigen Vorbereitungen zur Bildung eines Staates wird in Bezug auf die Konstellation und Gestaltung der Staaten im Mittleren Osten jegliche natürliche Dynamik ausgebremst. Auf Grundlage der nach dem Ersten Weltkrieg etablierten Sykes-Picot-Ordnung wird eine falsche und destabilisierende Politik mit jeweils wechselnden – aber von Kräften außerhalb der Region dominierten – Mächten betrieben.

Bricht die Sykes-Picot-Ordnung zusammen?
Etlichen AnalystInnen zufolge können in Syrien und im Irak mit den bisherigen Grenzziehungen und Regierungsstrukturen keine nachhaltigen stabilen Staaten entstehen. Dasselbe gilt für die Türkei und den Iran. Auch andere Staaten des Mittleren Ostens, die gemäß der Sykes-Picot-Ordnung entstanden sind und jahrzehntelang ihre ethnisch und religiöse Vielfalt unterdrückt haben, werden nicht mehr so weiter agieren können wie bisher.

Bricht die Sykes-Picot-Ordnung zusammen? Ja, der Status quo wird sich aufgrund mehrerer Faktoren und Dynamiken ändern. Aber wo liegt eine lebenswürdige Alternative und Perspektive? Etwa in neuen Nationalstaaten? Einer neuen, aber wieder auf Unterdrückung und kolonialen Interessen beruhenden Grenzziehung? Oder in noch zentralistischeren Staatsordnungen im Mittleren Osten? Oder in der völligen Destabilisierung und Zerstückelung der Region auf Basis einer Aufteilung entlang religiöser, ethnischer und clanbedingter Strukturen und „Grenzen“? Und wem würden solche „Grenzen“ und Strukturen nutzen?

Ressourcenverteilung und strategische Macht
Solange die Konflikte in der Region maßgeblich um die Ressourcenverteilung und strategische Macht der regionalen und internationalen Akteure ausgetragen werden, wird es zu keiner Demokratisierung und Stabilisierung sowie Lösung aus ausbeuterischer Abhängigkeit kommen. Auch durch radikale Strömungen werden ethnische und religiöse Konflikte geschürt, um die Ressourcen für das eigene wirtschaftliche und politische Kalkül und/oder die Beteiligung an Profiten zu instrumentalisieren. Dr. Marina Ottaway schreibt in „Internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG) der Friedrich-Ebert-Stiftung am 14.05.2014: „Die Ressourcen könnten neue Konflikte schüren aber andererseits auch dazu beitragen, alte Krisenherde durch die Schaffung von neuen Wirtschaftszonen beizulegen.“ ((„Jenseits von Sykes-Picot“, http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/jenseits-von-sykes-picot-388/))

Die Menschen und Volksgruppen im Mittleren Osten brauchen allerdings nicht noch mehr Kriege, Gewalt und Staatenbildung. Es sollten vielmehr neue friedliche, demokratische und selbstbewusste Formen von Politik und Demokratie gewagt werden.

Alternative zu Nationalstaat und strategischer Macht
Die Schaffung eines neuen Systems, einer demokratisch-ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft, „grundsätzlich außerhalb von staatlicher Macht aufzubauen“, wie dies von Abdullah Öcalan in seiner Verteidigungsschrift „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ ((Abdullah Öcalan: „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“, auf Deutsch: Mezopotamien-Verlag 2010, S. 89)) vorgeschlagen wird, ist dazu ein guter Ansatz. Dass diese Idee des „Demokratischen Konföderalismus“ oder der „Demokratischen Autonomie“ bisher wenig bekannt ist, hängt damit zusammen, dass sie seitens der herrschenden Eliten weltweit bewusst ignoriert – und bei der Entwicklung möglicher Lösungsmodelle nicht in Betracht gezogen oder sogar diffamiert – wird. Öcalan entwirft in seinem Konzept einen ganz neuen Begriff der „Nation“ – die „Demokratische Nation“. Die Demokratische Nation definiert sich nicht über eine ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit. Schon gar nicht definiert sie sich über staatliche Grenzen. Sie stellt viel mehr den Gegenentwurf zum Nationalstaat dar. „Auch wenn die verschiedenen Definitionen des Nationenbegriffs breitgefächert sein mögen, kann man in ihnen doch eine Gemeinsamkeit hervorheben. Diese Gemeinsamkeit drückt sich in dem gemeinsamen Geist einer Nation aus. Das bedeutet, eine Nation besteht aus einer Gruppe von Menschen, die einen gemeinsamen Geist [eine gemeinsame Mentalität] teilen“, schreibt Öcalan und kommt auf die gemeinsame Mentalität der Demokratischen Nation mit folgenden Worten zu sprechen: „Während bei der staatlichen Nation der Nationalismus bestimmend ist für den gemeinsamen Geist, sind es bei der Demokratischen Nation die Freiheit und die gegenseitige Solidarität.“ Kurz gesagt, ist die gelebte Demokratie das Bindeglied seiner Vorstellung einer Demokratischen Nation. ((Zum Begriff der Demokratischen Nation siehe: http://civaka-azad.org/die-demokratische-nation/))

Schauen wir uns das einmal am Beispiel der kurdischen Region in Rojava (Syrien) an. Rojava ist die Bezeichnung für die überwiegend von KurdInnen bewohnte Region in Nordsyrien.

Alfred Hackensberger schreibt am 03.06.2014 in „Die Welt“: „Sie [die neue autonome Regierung] will ein anderes, ein neues Syrien schaffen, eines der Demokratie, Selbst- und Mitbestimmung der Bevölkerung von Rodschawa.“ ((“Wo Syrien schon frei und demokratisch ist“ http://www.welt.de/politik/ausland/article128652793/Wo-Syrien-schon-frei-und-demokratisch-ist.html)) Ein Zurück in die Dominanz des alten Baath-Regimes ist nicht möglich und eine Zukunft unter der Herrschaft der „Islamisten“ ist auch keine Lösung. „Für radikale Islamisten ist Demokratie inakzeptabel. Für sie hat nur das göttlich-islamische Recht der Scharia Geltung. Alles andere ist für sie Gotteslästerung“, so Hackensberger. „‚Wir haben ganz andere Grundprinzipien‘, sagt Akram Heso, der parteilose Präsident der neuen Regierung, die sich im Januar gebildet hat. ‚Wir glauben an demokratisches Selbstmanagement, an dem alle ethnischen und religiösen Gemeinschaften gleichberechtigt teilnehmen können.‘“ Und das funktioniert momentan, wenn auch unter schwierigen Umständen.

„Demokratische Autonomie“
Wenn jedoch eine „Demokratische Autonomie“ in Zusammenarbeit mit sämtlichen Bevölkerungsgruppen funktioniert, warum sollte man dann einen Nationalstaat gründen? Das macht keinen Sinn, selbst wenn es sich um einen kurdischen Staat handeln würde. Der Vorschlag Öcalans bezieht sich auf den Mittleren Osten und wird momentan in Syrien, der Türkei, im Iran bis hin zum Irak diskutiert und entwickelt. Er könnte auch für weitere Länder in der Region als ein Modell für ein zukünftiges friedliches, demokratisches Zusammenleben wahrgenommen werden. Es wäre eine Herausforderung für die ganze Region, sich selbstbewusst zu entwickeln und allen Menschen ein humanes und würdiges Leben zu ermöglichen, anstatt in Krieg, Leid und Destabilisierung zu versinken. Dadurch würden jedoch die Profite und die Kontrolle über Ressourcen und Ressourcentransportwege einiger Akteure (aus der Region und international) geschmälert.

Versagen des Nationalstaats
Also ignoriert man dieses Experiment voreilig, weil die „Obrigkeiten“ es so wollen. Die dahinterstehenden Akteure versuchen auch noch immer, mit Hilfe „internationaler Kriminalisierung“ Öcalan und führende kurdische PolitikerInnen zu diskreditieren.

Demgegenüber sollten wir vorurteilsfrei versuchen, die Ideen und das Experiment nachzuvollziehen und die darin enthaltenen Entwicklungsmöglichkeiten und Auswirkungen zu begreifen. Denn all die anderen Modelle und Methoden haben versagt – und durch die bisherige verfehlte Politik ist der gesamte Mittlere Osten in einer Gewaltspirale gefangen und im heutigen Chaos versunken. So ähnlich beschreibt das auch Georg Diez in seiner Kolumne auf Spiegel-Online am 20.06.2014: „Es fällt den Menschen schwer, sich die Welt anders vorzustellen, als sie ist. Das ist ein philosophisches, vor allem aber ein politisches Problem: Denn die Gegenwart ist eine Konstruktion, die zufällig ist und nicht notwendig, und indem wir uns stumpf und störrisch an den immer gleichen Konstruktionsfehlern abarbeiten, verpassen wir den Moment, die Welt einmal anders zu denken.“ ((S.P.O.N. – Der Kritiker: „Der Nationalstaat muss sterben“, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/pankaj-mishra-georg-diez-ueber-isis-a-976364.html))

Weiter schreibt Diez: „Der Nationalstaat zum Beispiel: Eher Problem als Lösung, eine sehr junge historische Erscheinung, die perfekte Zwangsjacke für emanzipatorische Verirrungen von Minderheiten.“

Die kurdische Verantwortung
Die Verantwortung für eine Demokratisierung der Türkei, Syriens, des Iran und des Irak liegt momentan und historisch auch sehr schwer auf dem Rücken der KurdInnen. Diejenigen, die einst Opfer der dortigen Nationalstaaten waren, können heute als wegbereitende AkteurInnen eines demokratischen Wandels wirken und somit zur Demokratisierung der gesamten Region beitragen. Will man das, müsste man ohne Vorurteile die kurdische Perspektive betrachten, analysieren und verstehen – auch wenn sie von Seiten der PKK und Öcalans entwickelt wurde.

In der Verteidigungsschrift Abdullah Öcalans „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ beschreibt er auch die Problematik des Nationalstaats verbunden mit der aktuellen Politik im Nahen und Mittleren Osten. In Bezug auf die Gegenwart verweist er auf das von ihm entwickelte Demokratiekonzept und stellt fest, dass die Entwicklung in diesem mittelöstlichen Raum das genaue Gegenteil der Entwicklungen im Westen sei: „Der Staat wurde zunehmend despotischer und entwickelte sich für die Gesellschaft zu einem blutsaugenden Parasiten. Das ist die Tragik dieser Geschichte seit dem 15. Jahrhundert“. ((„Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“, S. 227 f.))

Ständige Krisen
Weiterhin beschreibt er: Der derzeit existente mittelöstliche Staat ist gekennzeichnet durch die Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Form autoritärer Repression und die Verschwendung der natürlichen Ressourcen der Länder. Gerade weil sie so despotisch sind, produzieren die bestehenden Systeme andauernd Krisen. Dieser Despotismus wird derzeit vom Westen unterstützt, damit die Ausbeutung der Ressourcen sicher und kostengünstig gewährleistet werden kann. Aufgrund der Verarmung der Massen gerät der despotische Staat jedoch zunehmend auch unter inneren Druck, reagiert mit verstärkter Repression und wird so für das globale System zum Hindernis. Diese Situation lieferte der Politik der Bush-Administration gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten – einschließlich des vorgeblichen Demokratisierungswillens – die legitimatorischen Argumentationsmuster, sie bildete „die materielle Grundlage für das Greater Middle East Project“. ((Ebd., S. 269))

Demokratisierung als dynamisches Konzept
Demokratisierung wird von Öcalan nicht als formal-institutionelles Projekt verstanden, sondern als dynamisches Konzept, das auf der basisdemokratischen Organisierung der Bevölkerung ruht und sich in kommunalen, vor allem in nicht etatistischen Strukturen artikuliert: „Demokratie nimmt in dem Maße zu, in dem der Staat abnimmt und umgekehrt.“ ((Ebd., S. 289)) Verbunden mit einem solchen Demokratiekonzept sind dann Spielräume politischer, vor allem kultureller Autonomie. So ist auch das Projekt Rojava zu verstehen – in dessen Rahmen die Probleme beispielhaft für den gesamten Mittleren Osten schrittweise behandelt und gelöst werden können: Das bedeutet ein Überwinden der autoritär-despotischen Staatsmodelle, die sich (zu Lasten der Minderheiten) nationalistisch legitimieren – einschließlich der damit verbundenen despotischen, ja faschistischen Tendenzen. Gerade im kulturellen und konfessionellen Pluralismus des Nahen und Mittleren Ostens sieht Öcalan die Chance für eine lebendige, basisorientierte Demokratie. Sie ist nur durch ein Höchstmaß an Autonomie und Abbau zentralstaatlicher Gewalt zu erreichen.

Die mittel- bis langfristige Perspektive für eine solche am Frieden in der Region orientierte Lösung ist eine föderale Vernetzung der Staaten, die dadurch nicht in ihrem derzeitigen territorialen Bestand gefährdet werden, wohl aber in ihren inneren Strukturen verändert werden müssten. Aus genau dieser Analyse heraus folgt auch eine radikale Selbstkritik an der anfangs von der PKK betriebenen Politik: Der nationale Befreiungskrieg war ein Fehler: „… dass wir ihn als einzigen Weg dachten und praktizierten, brachte viele sinnlose Verluste und das Scheitern andersartiger Bemühungen mit sich.“ ((Ebd., S. 447))

Aufhetzen der Volks- und Religionsgruppen in der Region
Die schon zuvor hergeleitete Absage an jeden Nationalismus, der scharf von einem kulturell begründeten Patriotismus unterschieden wird, ist zugleich Voraussetzung für die von Öcalan vorgeschlagene föderative Lösung, die sich nicht auf Kurdistan beschränken kann, sondern die gesamte Region umfassen muss, damit überhaupt demokratische Verhältnisse entstehen können. Solche auf Autonomie und wechselseitige Toleranz gegründeten Strukturen aber wollen weder der zeitgenössische Imperialismus noch die despotischen Staatsführungen – im Gegenteil: Die imperialistische Strategie zielt derzeit auf das gegenseitige Aufhetzen der Volks- und Religionsgruppen der Region.

Sichtbar wurde und ist dies in den auch von außen hervorgerufenen Destabilisierungs- und Verfallsprozessen von Jugoslawien über den Kaukasus und die Ukraine bis nach Afghanistan, zum heutigen Nordafrika (insbesondere Libyen) und dem Mittleren Osten. Auch der kurdische Föderalstaat im Nordirak ist hierfür ein Paradebeispiel, dient er doch nicht einer demokratischen Lösung, sondern ist Teil der Parzellierung der Region unter der Schirmherrschaft der international und regional rivalisierenden ökonomischen und politischen Kräfte.

Nationalstaat begraben
Mit Tolerierung der internationalen und regionalen rivalisierenden Mächte wurden in den unter arabischer, türkischer und persischer Dominanz stehenden Nationalstaaten u.a. den KurdInnen, Suryoye (AssyrerInnen/AramäerInnen), ArmenierInnen, BelutschInnen, TschetschenInnen, TurkmenInnen, TscherkessInnen, AserbaidschanerInnen, LasInnen, LurInnen, AraberInnen, PomakInnen und Dutzenden weiteren Bevölkerungsgruppen ihre Grundrechte vorenthalten, sie wurden unterdrückt, assimiliert und Massakern ausgesetzt.

Auch den unterschiedlichen Religionsgruppen erging es nicht anders unter der sunnitischen und schiitischen Dominanz in der Region, bei der jeder „seinen eigenen Gott anflehte, die Gebete der anderen zum Schweigen zu bringen“, wie der Autor Amin Maalouf in seinen Roman „Die Häfen der Levante“ ((übersetzt aus dem türkischen „Doğu‘nun Limanları“ (Die Häfen der Levante) von Amin Maalouf, Istanbul 1996)) schreibt.

So wurden die ChristInnen (assyrisch-aramäisch, armenisch-katholisch, armenisch-apostolisch, maronitisch, protestantisch, römisch-orthodox), AlevitInnen (in der Türkei), AlawitInnen (NusairierInnen in Syrien), EzidInnen (in Kurdistan), Schabak, IsmailitInnen, DrusInnen, Juden und Jüdinnen, Bahai und MandäerInnen in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt, verfolgt, vertrieben und zur Zielscheibe erklärt.

Ohne die Tolerierung und Förderung des Status quo durch die internationalen und regionalen Mächte hätten diese Volks- und Religionsgruppen in der Region nicht dieses Leid ertragen müssen.

In diesem Sinne muss der Nationalstaat nicht nur sterben, sondern auch begraben werden, um die Völker aus den Gräbern der Nationalstaaten zu befreien. Auf diese Art ergibt sich die Möglichkeit, dass die Menschen, die Dutzenden Volks- und Religionsgruppen im Mittleren Osten es doch noch schaffen können, friedlich und freiheitlich miteinander zu leben. Lobenswert ist in diesem Sinne der Artikel „Der Nationalstaat muss sterben“ von Georg Diez, der eine Debatte über den gescheiterten Nationalstaat angestoßen hat.