Für ein neues Oslo bedarf es Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit

cemilbayikCemil Bayik, Mitglied des KCK-Exekutivrates

Die kurdische Frage in der Türkei hat einen äußerst heiklen Punkt erreicht und die Zeichen auf eine baldige Lösung des Problems stehen nicht gut:
Denn der türkische Staat erhöht seine Kriegsausgaben, nimmt weiterhin tagtäglich kurdische AktivistInnen fest, droht mit der Immunitätsaufhebung der kurdischen Abgeordneten und setzt die Totalisolation Abdullah Öcalans, dem Repräsentanten des kurdischen Volks, fort. Doch plötzlich ist aus dem Mund des türkischen Ministerpräsidenten zu hören, dass Gespräch mit Abdullah Öcalan und der PKK möglich seien. Der Prozess von Oslo könne fortgesetzt werden. Ist das ein Wendepunkt in der kurdischen Frage? Oder versucht sich die AKP-Regierung erneut in einem taktischen Manöver, den Widerstand der kurdischen Seite zu brechen?
Im Folgenden wird die Übersetzung einer Stellungnahme des KCK-Exekutivratsmitglieds Cemil Bayik zu diesem Thema wiedergegeben. Das Original erschien am 01.Oktober in der kurdischsprachigen Tageszeitung Azadiya Welat.

„Der türkische Ministerpräsident Erdogan sagt, dass „auf Imrali oder in Oslo erneut Gespräche geführt werden können“. Warum trifft der polternde Ministerpräsident, der seit Monaten die schärfsten Äußerungen von sich gibt, bei jedem Statement zur Kurdischen Freiheitsbewegung Beleidigungen äußert, nun solche Aussagen? Beziehungsweise, was veranlasst den Ministerpräsidenten dazu, so zu reden? Warum spricht der Ministerpräsident, der unter dem Namen KCK, demokratische Politiker gefangen nimmt, weiterhin die Festnahmen fortsetzt, tagtäglich Beleidigungen in Richtung BDP wirft, heute von Gesprächen mit Imrali und der PKK. Der Ministerpräsident, welcher der BDP, weil sie PKKlerInnen umarmt hätten, die Welt zum Gefängnis machen möchte, sagt nun, dass Oslo-Gespräche möglich seien. Hier scheinen Wort und Tat nicht wirklich übereinzustimmen. Der Ministerpräsident verfügt über eine Form der Politik, die er immer dann einsetzt, wenn er in Bedrängnis ist. Indem er nun versucht, Erwartungen für eine Lösung zu wecken, will er sich vom bestehenden Druck befreien.

Der Ministerpräsident legt seine unaufrichtige Haltung während der Oslo-Phase nicht offen. Er schafft es nicht zu sagen, dass er die Protokolle, auf die sich in den Gesprächen geeinigt wurde, höchstpersönlich abgelehnt hat. Auch wenn er jetzt gesteht, dass sie selbst die Oslo-Gespräche abgebrochen haben, kann er nicht die Gründe dafür nennen. Obwohl es sich bei denjenigen, die die Aufzeichnungen der Oslo-Gespräche veröffentlicht haben verlauten, um Angehörige des Gülen-Ordens handelt, behauptet er weiterhin, dass es die PKK war. Hier wird versucht, der PKK die Schuld zuzuweisen. Diese Behauptung weiterzuführen, obwohl es auf der Hand liegt, dass Gülen-Anhänger die Oslo-Gespräche höffentlicht gemacht haben, zeigt, dass der Ministerpräsident keine wirkliche Ernsthaftigkeit an den Tag legt.
Die Zeitung „Zaman“ erklärt in der Überschrift ihrer Titelseite, dass die PKK die Oslo-Gespräche veröffentlicht hat. Damit wird versucht, die an der Gülen-Bewegung bestehenden Zweifel aus der Welt zu räumen. Aber auch diese Wahrheit wird letztlich ans Tageslicht kommen. Diejenigen, die die Oslo-Dokumente an die CHP weitergegeben haben, gehören selbst zur Gülen-Bewegung. Auch dies wird noch offenkundig werden. Der Exekutivrat des KCK hat mehrfach erklärt, dass sie mit der Veröffentlichung der Oslo-Aufzeichnungen und -dokumente nichts zu tun haben. Im ersten Moment vermuteten wir andere Staaten dahinter. Jedoch haben wir dann feststellen können, dass die Veröffentlichung dem Gülen-Orden und seinem Nest, dem Polizeigeheimdienst, zuzuschreiben ist. Der Gülen-Orden beabsichtige mit diesem Schritt, den türkischen Geheimdienst MIT, der im Namen des türkischen Staates die Oslo-Gespräche führte, öffentlich an den Pranger zu stellen und schließlich unter seine eigene Kontrolle zu bringen. Allerdings ist ihnen dies gründlich misslungen.
Nach eineinhalb Jahren wird dem Repräsentanten des kurdischen Volkes Abdullah Öcalan zum ersten Mal wieder ein Besuch seiner Familie gestattet. Dafür wird Dankbarkeit erwartet. Allein das zeigt, wie despotisch die Mentalität der AKP und des Ministerpräsidenten ist. Der eigentliche Zweck dieses Besuchs war, die in der Gesellschaft bestehenden Zweifel am Leben des Repräsentanten des kurdischen Volkes aus dem Weg zu räumen. Zu Zeiten des 12. Septembers 1980; Militärputsch wurden den Gefangenen des Gefängnisses von Amed ein Besuch von 15-sekündiger Dauer mit ihren Familien gestattet. Nur um den Familien zu zeigen, dass der Gefangene noch am Leben ist. Die Praxis auf Imrali ist nicht weniger schwerwiegend als die in den Gefängnissen des 12 Septembers. In den Gefängnissen des 12.Septembers wurden die Gefangenen niemals über Monate hinweg in Isolation gehalten.
Um zu bekunden, dass “mit Imrali und in Oslo Gespräche geführt werden können” wandert der Ministerpräsident von Fernsehkanal zu Fernsehkanal. Dabei bedient er sich einer demagogischen Rhetorik, nur um den Verdacht zu streuen, dass zwischen dem Repräsentanten des kurdischen Volkes und der PKK Differenzen bestünden. Allein dies zeigt, dass der Ministerpräsident nicht aufrichtig ist und nur ein psychologisches und taktisches Manöver vollziehen möchte. Die PKK fordert jeden Tag „Gesundheit, Sicherheit und Freiheit“ für ihren Vorsitzenden. Statt auf taktische Manöver zu setzen, sollte der Ministerpräsident besser versuchen, diese Forderungen umzusetzen. Dann wird er auch schnell bemerken, dass der Einfluss unseres Vorsitzenden auf die Bewegung ungebrochen ist.
Der Repräsentant des kurdischen Volkes sagte: “Wenn ich nur einmal im Monat oder im Jahr mit meinen Anwälten zusammenkomme, kann ich keinen Friedensprozess führen”. Er äußerte, dass er unter den bestehenden Bedingungen zu nichts beitragen könne. Sofort nach den Wahlen am 12.Juni 2011 gab er folgenden Aufruf über seine Anwälte ab: „ Das Parlament soll eine Entscheidung treffen, es soll meinen Weg frei machen, damit ich meine Rolle bei der Lösung und dem Frieden spielen kann.“ Auf all diese Forderungen und Aufrufe reagierten der Ministerpräsident und die AKP negativ.
Damit der Repräsentant des kurdischen Volkes seine Rolle spielen kann, forderte er “Gesundheit, Sicherheit und Freiheit”. Das kurdische Volk fordert auch Gesundheit, Sicherheit und Freiheit. Die PKK spricht von Gesundheit, Sicherheit und Freiheit. Die DemokratInnen, die die Lösung der kurdischen Frage wollen, sprechen von Gesundheit, Sicherheit und Freiheit. Darauf antwortet der Ministerpräsident erneut mit dem Hinweis darauf, dass die Ecevit-Regierung die Todesstrafe aufgehoben hatte. „Diese Regierung hat die Todesstrafe aufgehoben, wir können so etwas nicht machen. Wir wenden die erteilte Strafe an, Hausarrest ist nicht möglich“ sagt er. Der Repräsentant des kurdischen Volkes, das Volk und die PKK reden nicht von Hausarrest, sondern von Freiheit. Allein diese Haltung des Ministerpräsidenten zeigt, dass die Äußerungen über Oslo und die Möglichkeit von Gesprächen mit Imrali, nicht aufrichtig sind und es sich dabei nur um ein Spielchen, eine Taktik handelt. Damit neue Oslo-Gespräche geführt werden können, müssen die Forderungen nach Gesundheit, Sicherheit und Freiheit Beachtung finden. Ansonsten handelt es sich bei der Rede von Oslo um nichts Aufrichtiges. Denn die Oslo-Gespräche können nicht getrennt von der Behandlung des Repräsentanten des kurdischen Volkes betrachtet werden.
Der türkische Staat, die türkische Politik und die türkische Medien wenden gegen den Repräsentanten des kurdischen Volkes eine Politik der Drohung, Isolation und Erpressung an und sprechen gleichzeitig davon, dass der Repräsentant die Organisation (Anm. PKK) kritisieren würde! Es wird davon gesprochen, dass der Repräsentant durch die Aktionen der Guerilla beunruhigt wäre. Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine große Lüge und einen unverfrorenen Widerspruch. Falls dem so sein sollte, dann sollen sie doch die Freiheit des Repräsentanten gewährleisten und die Wahrheit würde mit all ihrer Blöße ans Licht kommen.
Der Repräsentant des kurdischen Volkes möchte den Konflikt ohnehin auf friedlichem Wege lösen. Darum hat er sich jahrelang bemüht. Daran sollte niemand irgendwelche Zweifel hegen. Jedoch hat der türkische Staat diese Bemühungen ins Leere laufen lassen. Er hat den guten Willen des Repräsentanten des kurdischen Volkes ausgenutzt. Deswegen sprach der Repräsentant des kurdischen Volkes von der vierten Phase (mit der vierten Phase kündigte Öcalan und die kurdische Freiheitsbewegung an, dass sie einseitig ihre Lösung, also die Demokratische Autonomie, umsetzen werden, Anm. d. Ü.), und dass er sich zurückziehen würde. Er sagte sogar, „der Staat fürchtet sich vor der Lösung und die PKK vor der Revolution“. Zweifelsohne wollte der Repräsentant des kurdischen Volkes nicht, dass die Situation diesen Punkt erreicht. Er wollte eine gerechte und demokratische Lösung. Er verhielt sich sehr geduldig und verzeichnete eine angemessene Annäherung. Das gemeinsame Zusammenleben der beiden Völker hat er persönlich am meisten gewollt. Er legte dadurch eine Haltung eines Repräsentanten der Türkei an den Tag. Dieser Repräsentant ist auch heute noch für eine demokratische politische Lösung des Konflikts und für einen gerechten und demokratischen Frieden. Jedoch handelt es sich bei denjenigen, die diese Bemühungen ins Leere haben laufen gelassen und der PKK keine andere Alternative außer dem Widerstand gelassen haben, um die VertreterInnen der AKP-Regierung.
Zwischen dem Repräsentanten und der Freiheitsbewegung angebliche Differenzen sehen zu wollen, ist ein vergebliches Bemühen. Hierbei handelt es sich nur um psychologische Kriegsrhetorik. Im wirklichen Leben stößt sie auf keinerlei Ressonanz. Das kurdische Volk lacht über solche Nachrichten und Bewertungen. Die kurdische Freiheitsbewegung ist eins mit ihrem Repräsentanten. Für die Freiheit ihres Repräsentanten leistet sie aufopferungsvoll Widerstand. Das Volk ist mit ihren Repräsentanten eins. Die demokratische kurdische Politik ist Teil dieser Einheit. Falls sie aufrichtig sind und eine Lösung wollen, würden sie zunächst von dieser vergeblich beabsichtigten Teile-und-Herrsche-Politik ablassen. Um die PKK zu umzingeln und zu liquidieren, versuchst du tagtäglich die BDP dazu zu drängen, die PKK als Terrororganisation zu bezeichnen. Aber gleichzeitig sagst du, dass ihr selbst „mit Imrali und der PKK Verhandlungen führen“ könnt, und dass es „mit der BDP nicht gehen würde!“ Als ob das nicht genug ist, sagst du dann auch noch, dass du die BDP-VetrteterInnen aus dem Parlament schmeißen wirst! Gespräche mit der BDP würden die Familien der Gefallenen beunruhigen!
Wie zu erkennen ist, besitzen die Aussagen des Ministerpräsidenten keine Aufrichtigkeit und tragen nur den Charakter des psychologischen Krieges. Solange der Ministerpräsident seine Haltung diesbezüglich nicht ändert, wird von den Äußerungen, sie könnten „auch selbst in Oslo und Imrali Gespräche führen“, nichts zu erwarten sein.

(Aus dem Kurdischem, ÜbersetzerInnenkollektiv)
Azadiya Welat, 01.10.2012
ISKU | Informationsstelle Kurdistan

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