Der Anschlag von Istanbul als Beginn einer neuen dunklen Phase?

Es war vorherzusehen: Die türkischen Behörden und das AKP/MHP-Regime machen die PKK für den gestrigen Anschlag in Istanbul verantwortlich und behaupten, der Anschlag sei aus Rojava aus geplant gewesen. Bei der Explosion auf der belebten Einkaufsstraße Istiklal mitten in Istanbul wurden am Sonntag sechs Menschen getötet. Die PKK hat alle türkischen Vorwürfe dementiert und spricht den Verbliebenen ihr Beileid aus und wünscht den Verletzten eine schnelle Genesung.

Bilder der angeblichen Attentäterin und ihrer Wohnung wurden bereits wenige Stunden nach der Tat öffentlich präsentiert. Sie trägt ein Tarnkleid, das die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zieht, stellt sich den Kameras, soll die Bombe platziert haben und anschließend nach Hause gelaufen sein, um sich dort festnehmen zu lassen. Das vom AKP-Regime nach dem Anschlag gesetzte türkische Staatsnarrativ wurde von fast allen Medien, anfangs auch in Deutschland, unkritisch übernommen.

Analyst*innen und Politiker*innen warnen bereits seit Jahren, der Türkei steht eine Phase der Eskalation bevor, die von der AKP gezielt gesteuert werden kann – und wird. Nun beginnt erneut der Lügenmarathon der AKP-MHP-Regierung kurz vor den (möglicherweise vorgezogenen) Wahlen.

Innerhalb von Minuten nach Veröffentlichung der grausamen Tat in Istanbul setzten türkische Nationalist*innen unzählige antikurdische Theorien ins Netz. Brandstifter ist besonders einer: Adem Taşkaya (Politiker der Zafer-Partei) hat die kurdische Menschenrechtsanwältin Jiyan Tosun ins Visier genommen und behauptete, Tosun habe die Bombe platziert. Anschließend löschte er seinen Tweet, aber seine abscheuliche Tat bleibt jedoch unvergessen. Jiyan Tosun wurde zum nationalen Feindbild erklärt, sodass sie die vergangene Nacht im Gerichtsgebäude verbringen musste und Mord- sowie Vergewaltigungsdrohungen erhielt. Die Anwältin erstattete Anzeige und forderte Personenschutz ein. Im Übrigen, Adem Taşkaya stand bereits wegen Missbrauchs seiner eigenen Tochter vor Gericht. Für den Fall wurde ein Berichterstattungsverbot verhängt, genauso wie für den Anschlag in Istanbul.

Auf ähnliche Weise wie Jiyan Tosun wurde auch die bekannte Menschenrechtsanwältin Eren Keskin zur Zielscheibe erklärt. Türkische Nationalist*innen verbreiteten zudem unzählige Verschwörungstheorien über angebliche Bezüge der international bekannten Rechtsmedizinerin und Menschenrechtlerin Şebnem Korur Fincancı zu den Anschlägen. Fincancı wurde vor etwa zwei Wochen in der Türkei inhaftiert, nachdem sie gefordert hatte, dass die Vorwürfe über die türkischen Chemiewaffeneinsätze in Kurdistan zu untersuchen seien.

Zeitpunkt und Ablauf des Anschlags sind kein Zufall

Das Erodgan-Regime befindet sich innenpolitisch in einer großen Krise, viele Umfragen sehen einen massiven Stimmenverlust unter anderem aufgrund der Wirtschaftskrise voraus. Der Anschlag in Istanbul ist faktisch der Wahlkampfauftakt für 2023 in Form einer Strategie der Angst und gesellschaftlichen Spaltung – wie bereits bei den staatlich gesteuerten Massakern in Ankara und Suruç (2015) erprobt. Das AKP-Regime hat auch nach dem Stimmverlust bei den Wahlen im Juni 2015 gezielt Anschläge dafür genutzt, um die Stimmenbasis auszubauen und abzusichern. Mithilfe der aktuell betriebenen Hetze soll das antikurdische Klima im Land aufrechterhalten werden. Das laufende HDP-Verbotsverfahren soll befeuert und der nächste Krieg gegen Rojava legitimiert werden. Erwartungsgemäß werden sich nun unzählige Nationalist*innen erneut der AKP-MHP-Allianz zuwenden. Auch der berühmte türkische Journalist Ahmet Aziz Nesin kommentierte den Anschlag von Istanbul auf seinem Twitter-Account mit den kurzen Worten „Der Staat hat die Arbeiten zu den Wahlen aufgenommen.“

Das türkische Regime steht im öffentlichen Fokus

Am Samstag gingen in Düsseldorf etwa 25.000 Menschen auf die Straße, um gegen die türkischen Chemiewaffeneinsätze in Kurdistan zu protestieren und Öffentlichkeit, Untersuchungen und Sanktionen zu fordern.

Für das AKP-Regime ein weiterer Grund, den schlimmen Anschlag zu nutzen, um von Kriegsverbrechen abzulenken. Auch das kürzlich von der PKK aus Südkurdistan veröffentlichte Video, auf dem zu sehen ist, wie türkische Soldaten die Leichname ihrer eigenen Kämpfer in Brand setzen und von den Bergen stürzen, hat den Druck hinter den Kulissen in Ankara massiv verstärkt.

Nun sollen die Chemiewaffeneinsätze aus den Schlagzeilen schwinden. Die Masseninhaftierungen und Gefängnisfolter in der Türkei, Lynchattacken gegen Kurd*innen, illegale Besatzungsoperationen, die hohe Inflationsrate, Massenerwerbslosigkeit und zunehmende Sexualdelikte und Femizide sollen gezielt aus dem Fokus befördert werden. Das Betätigungsverbot der kurdischen Arbeiter*innenpartei soll (seit Jahrzehnten) auf Grundlage falscher Anschuldigungen gerechtfertigt werden und jegliche Solidarität unterbunden werden können. Die systematische Jagd auf Kurd*innen sowie auf Politiker*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen soll legitimiert werden. Nun sollen zudem nationalistische Gefühle vereint, Feindbilder gepflegt, Hass und Hetze geschürt und das Gefühl von Sicherheit und Rache vermittelt werden, wenn Kurd*innen inhaftiert, massakriert und ihre Siedlungsgebiete besetzt werden. Der bereits massive Rassismus gegen syrische Geflüchtete soll mit der Betonung der syrischen Staatsbürgerschaft der angeblichen Täterin zusätzlich befeuert werden und Erdogan erneut an die Spitze der Regierung katapultieren, damit die antikurdische und menschenverachtende Politik ungestört fortgesetzt werden kann und das „heilige Türkentum“ somit gesichert ist.

Die Türkei steht am Beginn einer neuen dunklen Phase. In dieser Hinsicht ist es von großer Bedeutung, dass alle demokratischen Kräfte und die Öffentlichkeit in der Türkei die Absichten hinter diesem Plan klar erkennen. Die Medien dürfen keine Mittäterschaft eingehen, indem sie türkische Narrative und Staatspropaganda übernehmen und gefährliche Falschmeldungen streuen, die antikurdischen Rassismus befeuern und das Erstarken des türkischen Nationalismus sowie die menschenverachtende Politik in der Türkei legitimieren und Kurd*innen für ihren Freiheitskampf kriminalisieren.

Den Angehörigen der Opfer des Anschlags von Istanbul gilt aufrichtiges Beileid und tiefes Mitgefühl.

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