Der Putschversuch, Krieg und interne Abrechnung…

putschSelahattin Erdem, Yeni Özgür Politika, 25. Juli 2016

Es ist offensichtlich, dass der Putschversuch vom 15. Juli ein Resultat des seit dem 24. Juli 2015 andauernden Krieges in Kurdistan darstellt.

Eine Gruppe innerhalb des Militärs hat in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli gegen die AKP-Herrschaft einen Putschversuch unternommen. Hierbei war eine deutliche Anlehnung der Putschisten an die Luftwaffe und die Gendarmerie zu verzeichnen. Auffällig ist, dass der Putschversuch sich vor dem Treffen des Hohen Militärrates und in einer Zeit, in der die AKP gegen die Gülenisten eine Liquidationsoperation gestartet hat, ereignet hat. Es zeigte sich, dass der Putschversuch nicht wie geplant ausgeführt werden konnte und den Charakter einer Frühgeburt trug.

Auch wenn es sich um den bislang härtesten Putschversuch in der Türkei handelt, ist er aufgrund der frühzeitigen Ausführung und der fehlenden Anlehnung an die Befehlsstrukturen erfolglos geblieben und konnte von der AKP-Herrschaft niedergeschlagen werden. So wurden zentrale Einrichtungen wie das Parlament, die Zentrale des Geheimdienstes MIT, der Präsidentenpalast und das Polizeipräsidium von Kriegsflugzeugen und Helikoptern bombardiert. Die leicht panisch wirkenden Putschisten wurden handlungsunfähig gemacht und mit Hilfe der Zivilgesellschaft sowie der Putschgegner konnte die AKP schließlich einen Erfolg verbuchen.

Erdogan und die AKP-Führung, die den als gülenistisch bewerteten Putschversuch zunächst unterdrückt zu haben scheinen, riefen am Ende der Sitzungen von Regierung und Nationalem Sicherheitsrat einen neuen dreimonatigen “Ausnahmezustand” aus. Der mit Zustimmung des Parlaments in Kraft getretene Ausnahmezustand hat die AKP-Herrschaft, die seit geraumer Zeit auf eine Ein-Mann-Diktatur zusteuerte, zu einer offenen Diktatur gemacht. Im Falle eines Erfolges der Putschisten wäre in der Türkei Kriegsrecht ausgerufen worden, mit dem Erfolg der AKP wurde nun der Ausnahmezustand deklariert. Die Türkei schwankt zwischen Militärdiktatur und Ausnahmezustand.

Nun debattiert jeder über den Putschversuch und den von der AKP verkündeten Ausnahmezustand. Obwohl sich alle vier im Parlament vertretenen Parteien gegen den Putsch ausgesprochen haben, ist im Hinblick auf den Ausnahmezustand eine Entzweiung zwischen den Parteien zu verzeichnen. Während die AKP und die MHP für den Ausnahmezustand votierten, sprachen sich die HDP und CHP dagegen aus.

Es besteht weitgehende Übereinkunft darin, dass der Putschversuch vom 15. Juli in Zusammenhang mit der am 24. Juli 2015 begonnenen Spezialkriegsführung der AKP-Regierung steht. Er ereignete sich als Resultat der seit einem Jahr praktizierten faschistischen Angriffe. Der Putschversuch stellt zum einen die Fortführung der Phase dar, in der der Ministerpräsident Davutoglu von seinem Posten verdrängt wurde, zum anderen wird behauptet, dass er von der Fetullah Gülen Bewegung ausgeführt wurde. Wenn dem so ist, handelt es sich um eine Fortführung der Ereignisse vom 17.-25. Dezember 2013.

Zweifelsohne ist der Putschversuch ein Resultat des seit einem Jahr in Kurdistan herrschenden Krieges. Die AKP-Führung sollte sich folgender Realität bewusst sein: wenn du mit deiner Armee mitsamt allem militärischem Equipment die kurdischen Städte belagerst, wird diese Armee, so wie sie die Kurden unterdrückt, auch einen Putsch durchführen. Besagte Personen waren „Helden”, als sie Cizre, Sur, Yüksekova, Sirank und Nusaybin dem Erdboden gleich gemacht haben; nach dem Putschversuch nun sind sie „Verräter”, und zwar „bestialische, niederträchtige Verräter”.

Aus diesem Grund sind Parallelen zu den Ereignissen von 1979-1980 zu verzeichnen. Nach dem Massaker von Maras, das am 19. Dezember 1978 begann, wurde in den kurdischen Gebieten Kriegsrecht ausgerufen. Diese Phase führte dazu, dass mit dem faschistischen Militärputsch vom 12. September 1980 die gesamte Türkei der Regierung durch die Armee unterstellt wurde. Nach dem Massaker vom 20. Juli 2015 in Suruc begann am 24. Juli erneut der Krieg gegen das kurdische Volk. Ein Jahr später wurde der Ausnahmezustand nun auf die gesamte Türkei ausgeweitet.

KRIEG UND INTERNE ABRECHNUNG

Folgende konkreten Feststellungen können getroffen werden: es ist offensichtlich, dass der Putschversuch vom 15. Juli ein Resultat des seit dem 24. Juli 2015 in Kurdistan geführten Krieges darstellt. Das türkische System der Kriegsführung, das gegen den kurdischen Widerstand erfolglos blieb, hat auf diese Weise intern abgerechnet. Diese interne Abrechnung begann mit der Absetzung der Regierung von Ahmet Davutoglu, erreichte mit dem genannten Putschversuch ihren Höhepunkt und ist noch nicht beendet.

Auf der anderen Seite wird behauptet, der jüngste Putschversuch gehe auf die Gülen- Bewegung zurück. Es zeigt sich, dass sich unter den Putschisten ein organisierter ideologischer Kern befindet. Diese mögen Gülenisten sein. Jedoch ist es nicht korrekt, alle Putschisten als Gülenisten zu betrachten. Man sieht, dass nicht alle in gleichem Maße organisiert sind. Auch wenn aktuell nicht ganz klar ist, wer dahintersteckt, steht fest, dass eine Anti-Haltung zu Erdogan genutzt wurde.

Es ist unumstritten, dass der Putschversuch vom 15. Juli einen Bestandteil bzw. eine Fortführung des Kampfes zwischen den globalen Kapitalmächten und dem türkischen nationalstaatlichen Faschismus darstellt; also die Auswirkungen und Konzentrierung des dritten Weltkrieges im Nahen Osten auf die Türkei. Auch die Statements der Regierungen von den USA und der EU im Hinblick auf den Putschversuch lassen hierauf schließen.
Zweifelsohne ist der Putschversuch ein Resultat von fehlender Demokratie in der Türkei und der Zuwendung der Regierung von Tayyip Erdogan zu einer faschistischen Diktatur. Wo es Demokratie gibt, gibt es keine Putschversuche. Militärputsche kommen dort auf die Agenda, wo es keine demokratischen Regierungen gibt, sondern Diktaturen. So liegt die Ursache des Putschversuches vom 15. Juli darin, dass die Regierung von Tayyip Erdogan sich nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 mit dem faschistischen Angriff vom 24. Juli dem zivilen Putsch und der Diktatur zugewandt hat. Der „gülenistische Putschversuch des Militärs” entwickelte sich gegen die zivile Diktatur Erdogans.

EINE PHASE VON AUFEINANDER FOLGENDEN PUTSCHEN

Es ist offensichtlich, dass die aktuelle politische und militärische Struktur der Türkei sich in eine Phase gegenseitiger Putsche gemündet ist und der Umsturzmechanismus Einzug erhalten hat. Die kurdische Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan hatte diese Realität bereits vor drei Jahren angesprochen und die jeweiligen Kreise gewarnt. Er hatte geäußert, dass in der Türkei der Umsturzmechanismus eintreten und mehrere Putsche aufeinander folgen werden, wenn die AKP-Regierung die politische Lösung der kurdischen Frage nicht vorantreibt, sondern auf einen Bestand des Problems setzt und sich der Diktatur zuwendet. Diese Worte spiegeln die Entwicklungen seit den Wahlen vom 7. Juni 2015 wieder.

All dies offenbart, dass sich in der Türkei Umstürze sowie zivile Putsche vollziehen, die Resultat der Zuwendung Tayyip Erdogans zur Ein-Personen Diktatur sind. Dies wiederum ist das Ergebnis seiner Gesinnung und Politik der Leugnung von Existenz und Freiheit des kurdischen Volkes. Denn hieraus generiert sich die nationalstaatliche Diktatur. Somit bildet die Lösung der kurdischen Frage den Schlüssel zur demokratischen Entwicklung in der Türkei.

Während nun vom „Sieg der Demokratie” gegen den Putschversuch, der Entwicklung von Demokratie sowie demokratischer Politik und einer entsprechenden Lösung der kurdischen Frage gesprochen wird, deklariert die Regierung von Tayyip Erdogan den Ausnahmezustand. Unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen die Gülenisten” werden Terror und Repressionen gegen alle demokratischen Kräfte, allen voran die kurdische Freiheitsbewegung sowie alle Gegner von Tayyip Erdogan auf der Agenda stehen.

Es ist offensichtlich, dass die Türkei stets von militärischen Putschisten oder Diktaturen eines zivilen Putsches beherrscht wird, solange sie keine tatsächliche Demokratie etabliert. Die Türkei wird stets unter den Repressionen und Grausamkeiten von militärischen oder zivilen faschistischen Diktaturen leiden. Die türkische Gesellschaft wird ohne Demokratie zwischen militärischen und zivilen faschistischen Putschregierungen hin und her schwanken. Somit ist Demokratie als Voraussetzung einer Lösung der kurdischen Frage einzige Bedingung für eine Befreiung der Gesellschaft der Türkei von faschistischen Diktaturen.

Das kurdische Volk und die revolutionär-demokratischen Kräfte stehen selbstverständlich gegen den versuchten Militärputsch und belegen dies auch mit ihrer Praxis. Aber ebenso sind sie gegen die zivile, faschistische Diktatur der AKP. Daher werden sie aktiv gegen die Etablierung des AKP-Staates im Rahmen der Diktatur des Ausnahmezustandes kämpfen. Dies kann nur über eine antifaschistische Koalition aller revolutionären und demokratischen Kräfte gelingen. Diese Kräfte werden die für die demokratische Zukunft der Türkei notwendige Sensibilität und Aktivität zeigen.