Ferda Çetin, Firatnews, 19.12.2016
Der Pariser Fall wird nicht allein durch Verschleierung eines internationalen Mordkomplottes, sondern auch als Skandal, in dem Frankreich die Gerechtigkeit ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen opferte, in die Geschichte eingehen.
Obwohl nach dem Massaker in Paris 4 Jahre vergingen, gab es abgesehen von der Verhaftung von Ömer Güney als „Täter“, keine weitere Entwicklung. Der französische Nachrichtendienst, die Polizei und die Exekutive bemühen sich ernsthaft darum, die Angelegenheit zu verdecken, statt Ermittlungen aufzunehmen.
Es gibt weder zur Identität von Ömer Güney, seinem Auftrag, Aktivitäten, Verbindungen, Rolle in dem Mord und Beweggründe, die organisatorische Kraft und Koordinierung noch im Rahmen der Strafverfolgung, den Erforschungen zu Beweismaterialien, Ermittlungen oder den unklaren Phasen des Falls einen erreichten Meilenstein.
Auf Drängen des kurdischen Volkes, fand erst die Aufnahme von Güneys Aussage, Verhaftung, Hausdurchsuchung und sogar die Beweisaufnahme statt. Der französische Nachrichtendienst, die Polizei und Exekutive versuchen, wie auch das türkische Pendant, das Massaker als die Einzeltat eines Verrückten darzustellen und sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen.
Es läuft darauf hinaus, dass die Verbindung des Mordes mit der Türkei vertuscht werden, und der Pariser Mord einer individuellen Tat eines Wahnsinnigen, zügellosen, abenteuersuchenden Mannes zugeschrieben werden soll.
Vier Monate nach den Pariser Mordtaten erscheint ein Artikel mit der Datierung auf den 13. Mai 2013 in der Y. Özgür Politika und der unglücklichen und traurigen Aufschrift „ Ich wusste es bereits vorher“.
Und heute ist es das, was sich tatsächlich bewahrheitet.
Es ist kein überraschendes Ereignis, dass die Ermittlungen und Anklageschrift der Pariser Morde vorbereitet, der Prozess jedoch nicht initiiert worden sind. Das ist das Ergebnis der Planungen seitens des französischen Staates. Die Richtung wies auf die heutigen Ereignisse hin.
Die Beziehungen von Ömer Güney zum MIT sollen nicht aufgedeckt werden
Es gab im Zusammenhang der Verbindung von Ömer Güney mit dem MİT unzählige handfeste Informationen und Belege. Während des gerichtlichen Prozesses hätten die Diskussionen darüber zu einer Krise zwischen Frankreich und der Türkei geführt. Die französische Justiz und das Gerichtshof waren sich dessen bewusst. So stand der französische Staat vor der Wahl. Entweder würden die Beziehungen des Auftragsmörders und der dahinter stehenden Macht mit einer gerechten Verurteilung auffliegen oder das Verfahren würde entweder mit einer Verjährung oder dem Tod des Attentäters eingestellt werden. Frankreich hat sich für letzteres entschieden.
Die Anklage und die Anklageschrift stehen bereit, das Gericht jedoch nicht!
Die Anklage mit der Nummer 2409/13/2 wurden von den Staatsanwälten Jeanne Duye, Christophe Teissier und Laurence Le Vert angefertigt und am 9. Juli 2015 fertig gestellt. Am 10. Juli 2015 wurde dies auch den beteiligten Anwälten mitgeteilt. In der Anklageschrift wird der Tatbestand folgenden Worten resümiert: „ Ableben von Fidan DOĞAN, Sakine CANSIZ und Leyla ŞAYLEMEZ; eine Mordtat durch Bildung einer individuellen oder organisierten Täterschaft, um die öffentliche Ordnung mit Terror und Einschüchterungsmethoden im schweren Maße anzugreifen; Bildung einer individuellen oder organisierten Täterschaft zwecks Angriff auf die öffentliche Ordnung und Mitgliedschaft einer strafbaren Organisation, Individuen gegenüber eine oder mehrere Straftaten gleichzeitig zu begehen.“
Trotz der Tatsache, dass diese Anklageschrift bereits am 9. Juli 2015 fertiggestellt wurde, verkündet das zuständige Gericht die erste Gerichtsverhandlung zum 5. Dezember 2016. Anschließend wird der Verhandlungstermin ohne jegliche Begründung verschoben. Es wird der 23. Januar 2017 als neuer Termin der Gerichtsverhandlung bekannt gegeben.
Was beinhaltet die Anklageschrift?
Die Anklageschrift beinhaltet die Identität, Persönlichkeit, Besonderheiten, Beziehungen, Psycho- und Gesundheitszustand, Verbindungen zu kurdischen Organisationen und Politikern Ömer Güneys. Die Anwälte verglichen diese Informationen mit den Aussagen kurdischer Zeugen und deckten Widersprüche und Lügen auf.
Die häufigen Reisen Ömer Güneys nach Ankara, die in die Öffentlichkeit gedrungenen Gespräche mit den Vertretern des MITs, geführte Gespräche mit Handys, von denen die meisten in der Türkei registriert waren, Anweisungen von „oben“, um kurdische AktivistInnen zu ermorden…
Ömer Güney gibt bei seiner Verhaftung an, dass es niemanden aus seiner Familie gibt, denen seine Verhaftung mitgeteilt werden kann. Jedoch bittet er darum, der türkischen Botschaft eine Mitteilung machen zu dürfen.
Während zahlreiche Ein- und Ausreisestempel die Chronologie der Reisen von Ömer Güney in die Türkei darlegen, ist zu sehen, dass der Reisepass am 24 August 2012 in den Behörden in Ankara ausgegeben wurde.
Anklageschrift vom 28.04.2014
Abgesehen von den Mordtaten begeht Ömer Güney während seiner Haft eine weitere Straftat: “Organisierung eines Fluchtversuchs in und mit der Mitgliedschaft in einer bewaffneten kriminellen Organisation und Nutzung von Sprengstoff, womit ihm bis zu 10 Jahre Haft extra drohten.“
Die nachgereichte Anklageschrift wird folgendermaßen ausgearbeitet: Die im Jahre 2013, 2014 und besonders am 4. Januar 2014 in Frankreich, Deutschland und der Türkei begangene Straftaten sind nicht aus dem behandelten Zeitrahmen auszuschließen.“ Die Frage ist jetzt warum die französischen Staatsanwälte in die Anklageschrift für den versuchten Fluchtversuch Deutschland und die Türkei mit hinneinnehmen.
Der Fluchtplan von Ömer Güney
Ömer Güney wird am 4. Januar 2014 von seinem ehemaligen Arbeitskollegen aus Deutschland Ruhi Semen und seinem Sohn Ümit Semen im Gefängnis im Besucherraum besucht.
Der Besuch wurde zuvor beantragt und sowohl von der Gefängnisleitung als auch vom Staatsanwalt genehmigt. Allerdings wird die französische Polizei und der Geheimdienst benachrichtig, sodass der Raum mit Kameras und Abhörgeräten ausgestattet wurde.
Das überwachte Gespräch findet in der Anklageschrift folgende Erwähnung: “Die Dialoge während des Treffens, wurden durch ein Geräusch-Filtersystem und einem extra dafür beauftragten Übersetzer ordentlich und in hoher Qualität dokumentiert und waren sehr verständlich.“
Ömer Güney wollte von Ruhi Semen kontaktiert werden
Ömer Güney wollte von Ruhi Semen, dass er in die Türkei geht und jemanden trifft der „Bey“ genannt wird. Im Gespräch spricht er immer wieder von einer „Mama“ von der es klar, dass das nicht seine biologische Mutter ist. Güney sagte, dass die Sache bei ihm sei, er das unter allen Umständen verstecken würde und es eines Tages dem Besitzer übergeben werde. Güney sagte zu Ruhi Semen: „Du ihren ihren Haupteingang. Muss ich dir sagen, was darüber ist, muss ich dir das aufzeichnen, ist nicht nötig oder?“ und ergänzt: „Kümmer du dich einfach darum und leite das weiter. Sie sind bereits informiert.“
Ein Briefverkehr vor den Augen des Gefängnispersonals
Aus der Anklageschrift: „Es wird ersichtlich, wie Ömer Güney die Überwachung im Besucherraum austricksen will und diverse Tricks anwendet, dafür Ruhi Semen einen Zettel gibt.“
Wie es auch protokolliert wurde hat das Gefängnispersonal gesehen, wie ein Zettel von Güney an seinen Freund übergeben wurde, ist aber nicht eingeschritten.
Die Anklageschrift wird also zusehend zu einem Filmszenario. Die Französischen Behörden wissen von der Wichtigkeit dieses Treffens verhindern aber nicht, dass dieser Zettel diesem Mann übergeben wird. Das begründen sie dann mit unglaubwürdigen Argumenten.
So unsinnig, aber anstatt dass Ruhi Semen genommen, vernommen und der Zettel untersucht wird, wird er einfach gehen gelassen. Dazu weiter in der Anklageschrift:
„Die Versuche Ruhi Semen abzuhören und den von Ömer Güney übergebenen Zettel zu beschlagnahmen waren nicht erfolgreich. Er wurde angerufen und gebeten, dass er am nächsten Tag (Sonntag) zur Anti-Terror-Polizei (SDAT) nach LEVALLOIS-PERRET kommen soll. Dem hat er auch zugestimmt. Dennoch ist er am nächsten Tag sehr schnell nach Deutschland abgehauen.
Der Brief der französischen Polizei
Am 8. Januar macht die Französische Polizei bei der deutschen Kriminalpolizei einen offiziellen Antrag auf internationale Ermittlungsunterstützung für die Vernehmung von Ruhi Semen und Ümit Semen durch die deutschen Behörden.
Am 27. Januar vernimmt die deutsche Polizei Ruhi Semen. Aus der Anklageschrift: „Ich sage ihnen jetzt die Wahrheit. Ich wollte Güney nur besuchen. Allerdings hat er danach auch mich in Gefahr gebracht. Er hat mir ein Brief gegeben. Diesen Brief sollte ich seiner Mutter geben. Er hat mir einen Brief gegeben, den ich jemandem in Ankara geben sollte. Ich sollte diesen Brief dem türkischen Geheimdienst MIT geben. Ich hab den Brief gelesen und Angst bekommen. Ich habe den Brief nur einmal gelesen als ich heim kam. Ich hätte nach Ulus und von dort mit dem Bus zur MIT Zentrale fahren sollen.“
So wie es Ruhi Semen geschildert hat, verlangte Ömer Güney dass er zum Stadtteil Ulus in Ankara und von dort zur MIT Zentrale fahren soll. Er hat ihm seinen Weg sehr genau beschrieben und gesagt dass er den Brief einem „Herrn“ dessen Nachname mit „Kt“ anfängt, übergeben soll. Außerdem würde dieser Herr auch die Reisekosten von Ruhi Semen übernehmen.
Ruhi Semen bestand weiterhin darauf, dass er keinerlei Informationen über die „Sachen“ habe, von denen Ömer Güney sprach, und behauptete „nicht zu wissen was sein Freund damit meine“. Außerdem behauptete er dass er nichts mit dem türkischen Geheimdienst zu tun hätte.
Der Fluchtplan von Ömer Güney befand sich bei Ruhi Semen
Nach den Durchsuchungen der Deutschen Polizei im Haus, dem Auto und dem Arbeitsplatz von Ruhi Semen sowie der Auswertung seines NOKIA Handys, fand man auf der Speicherkarte einige gelöschte Fotos. Darauf waren in kleiner und enger Handschrift Notizen und Gebäudepläne zu sehen. Diese Bilder wurden daraufhin zwei weiteren Spezialisten zur Wiederherstellung geschickt.
Nach der Rekonstruktion wurde herausgefunden, dass diese Notizen einen „Fluchtplan“ darstellten, die auch eine solche Überschrift hatten. Danach war sehr ersichtlich, dass diese Flucht in einem Krankenhaus stattfinden sollte. In den Notizen stand, dass nach der Einschätzung von Ömer Güney, das Krankenhaus FRENSES, in dem er sich aufhielt, nicht ausreichend geschützt werde. Auch wenn sein Zimmer dauerhaft überwacht werden und diese normale Schutzwesten hätten, hielt er es für richtig, dass er am besten im Zeitraum seiner OP im Krankenhaus Salpêtrière oder Sainte-Anne fliehen kann.
Die deutsche Polizei vernimmt Ruhi Semen zum zweiten Mal
Beim zweiten Verhör am 2. September 2014 gesteht Ruhi Semen dann alles. Ömer Güney habe ihm den Brief während seines Besuches am 4. Januar gegeben, am 9. Januar habe er davon Fotos mit seinem Handy gemacht und am 4. Februar die Fotos gelöscht. Er gab zu, dass Ömer Güney ihm den Zettel ganz klein gefaltet gegeben habe, „Die Buchstaben A,B,C für die Gefängniswärter stehen sollen, das gezeichnete Schema beschreibe, wie Ömer Güney hätte befreit werden sollen und dass das alles das Krankenhaus darstelle, in das er gehen sollte.“
Auf Nachfrage sagte Ruhi Semen, dass er denke, dass Ömer Güney vorhabe aus dem Krankenhaus zu fliehen. Er habe aus den Worten Güneys verstanden, dass er sagen wolle, dass es „einfacher sei, aus dem Krankenhaus zu fliehen“. Der Plan, der Ruhi Semen gegeben wurde, hatte Ähnlichkeiten mit dem Sainte-Anne Krankenhaus.
Nach französischem Recht folgt auf ein Fluchtversuch bis zu zehn Jahre Haft. In den Paragraphen 434-27, 434-28, 434-30, 434-31, 434-36, 434-44, 450-1, 450-2, 450-3 und 450-5 des Französischen Strafrechts sind Fluchtversuche geregelt. Warum haben die Französischen Behörden nicht angefangen gegen Ruhi Semen wegen Beihilfe zu Flucht und versuchter Gefangenenbefreiung zu ermitteln, obwohl sie ausdrücklich feststellten, dass er Teil des Fluchtplans war? Hat Ruhi Semen die Freiheit Straftaten zu begehen oder gar eine diplomatische Immunität?
Wir kennen die Antwort auf diese Fragen: Wenn Ruhi Semen mit in die Ermittlungen aufgenommen worden wäre, wäre das Verfahren fortgeführt worden, auch wenn Ömer Güney verstorben wäre. Da er nicht so erfahren und schweigsam war, wie Ömer Güney, hätte das den türkischen Staat ordentlich in Bedrängnis gebracht. Die große Weitsicht (!) der französischen Richter und Staatsanwälte haben diese Gefahr ordentlich verbannt. Ein wegen Versuchter Gefangenenbefreiung Beschuldigter ist vor einer Verurteilung davongekommen.
Die Französische Polzei, die Richter und Staatsanwälte wissen sehr wohl und in aller Klarheit von den Beziehungen Ömer Güneys zum türkischen Geheimdienst. Diese Informationen sind mit aller Nacktheit auch in die Anklageschrift eingegangen. Auch der deutsche Polizei, die Ruhi Semen verhört hat, kennt diese Information.
Ömer Güneys Anwälte wollten von Anfang an und in regelmäßigen Abständen die Freilassung ihres Mandanten aufgrund von gesundheitlichen Gründen. Der letzte Antrag dieser Art wurde am 18. May 2016 eingereicht. Das Ärzte-Team und das Gericht entschied, dass seine Gesundheit gut sei. Die Französischen Behörden haben einerseits den Beginn des Verfahrens in die Länge gezogen, und andererseits parallel dazu den Tod des Beschuldigten vorbereitet.
Die Rolle des MIT bei den Pariser Morden ist so offensichtlich, dass sogar Recep Tayyip Erdogan in einer Rede 2015 folgendes sagte: „Sie infiltrierten unsere Institutionen und verübten hier und dort Morde.“ Das ist ein Geständnis. Sogar trotz Geständnisse haben die französischen Behörden den Tod des Beschuldigten abgewartet oder auf Verjährung gesetzt und die Anklage fallen zu lassen.
Deshalb ist der Pariser Prozess nicht nur einer der einen internationalen Mord aufklärt. Er ist auch ein Skandal in dem die französische Gerechtigkeit getötet wird und in dem die französische Gerechtigkeit den Handels-, Wirtschafts- und Politischen Interessen geopfert wird.