Nach den Morden an zwei Mädchen durch Familienangehörige in Hesekê Anfang Juli sind die im Jahr 2014 in Rojava eingeführten Frauengesetze wieder in den Fokus gesellschaftlicher und politischer Diskussion gerückt. Die Frauenkoordination der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien fordert eine konsequente Bekämpfung von Feminiziden. Auch der Dachverband der Frauenorganisationen „Kongreya Star“ protestiert gegen die patriarchale Gewalt. Die Vorsitzende des Frauenrats in der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien Cihan Xidro forderte jüngst, dass die Frauengesetze angesichts dieses Falles umgesetzt werden müssen.
Wie entstanden die „Frauengesetze“?
Mit der Gründung des gesetzgebenden Rates der Demokratischen Autonomie im Kanton Cizîrê bildete sich am 21. Januar 2014 zugleich ein Frauenausschuss mit der Zielsetzung, eine offizielle Vertretung der Frauen und ihrer gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen, politischen und rechtlichen Interessen zu sein. In diesem Sinne fand eine kontinuierliche und enge Zusammenarbeit mit Kongreya Star und anderen Frauenorganisationen, mit Frauen aus den Kommunen und verschiedenen religiösen und nationalen Gemeinschaften statt. Im Dialog und in Zusammenarbeit konnten sie in den letzten Jahren – trotz der schwierigen Umstände von Krieg, Embargo und knappen finanziellen Mitteln – eine Reihe an Projekten initiieren und realisieren, welche Veränderungen im Leben von Frauen in Rojava bewirkten.
Von der Feststellung ausgehend, dass Männerherrschaft, patriarchalische Gesellschaftsstrukturen, Gesetze und Traditionen die Ursache für viele Probleme von Frauen und der Gesamtgesellschaft sind und diese insofern vor allem die Entwicklung von Frauen behindern, hielt es der Frauenausschuss für notwendig, Gesetze zu erlassen, welche Frauen und ihre Rechte in der Demokratischen Autonomie stärken. In einem Diskussionsprozess mit Frauenorganisationen, welcher mittels Versammlungen in den Kommunen und verschiedenen Religionsgemeinschaften vonstattenging, wurde ein Entwurf über „die grundlegenden Prinzipien und allgemeinen Anordnungen bezüglich der Situation und Rechte von Frauen“erarbeitet. Dieser Entwurf wurde am 1. November 2014 durch den Gesetzgebenden Rat der Demokratischen Autonomie angenommen stellen die Frauengesetze der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien dar.
Neben dem Gesellschaftsvertrag fungieren die Frauengesetze als rechtliche Rahmung und Untermauerung des gesellschaftlichen Aufbruchs und vor allem der Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien. Diese am „Demokratischen Konföderalismus“ orientierte Konstituierung erfolgte vor dem Hintergrund der im Januar desselben Jahres (2014) von den damaligen drei Kantonen in Rojava je ausgerufenen »Demokratische Autonomie«. ((Mendanlioglu, Ramazan: Geschichte und Gegenwart der »Frauenrevolution« in Rojava, 2020, S. 269-285, in: Hawel et. al: WORK IN PROGRESS. WORK ON PROGRESS. Beiträge kritischer Wissenschaft Doktorand*innen-Jahrbuch 2020 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, VSA-Verlag, Hamburg 2020. Link zur Publikation: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studienwerk/VSA_RLS_Studienwerk_Jahrbuch_2020.pdf)) Sie stehen in direkter Verbindung mit der kurdischen Frauenbewegung und ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in Theorie und Praxis. Die Präambel nimmt eine unmittelbare Verbindung und Wechselseitigkeit von Frauenbefreiung und Demokratisierung vor – eine Formel die kennzeichnend ist für das Denken Abdullah Öcalans und die Praxis der kurdischen Befreiungsbewegung.
Die Frauengesetze lassen sich durch zwei wesentliche Strategien charakterisieren. Zum einen beinhalten sie ein Vorgehen gegen patriarchale Verhältnisse und Praktiken. Zum anderen steht die Stärkung der Rolle und Bedeutung von Frauen im Zentrum. Dabei stellen sie als rechtliche Grundlage einerseits eine Festigung der bisher errungenen feministisch-emanzipatorischen Strukturen dar, andererseits dienen sie mit Blick auf die Zukunft einer weitergehenden Demokratisierung und Gleichberechtigung der Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft.
Einige Verbote und Rechte, wie zum Beispiel das Polygamie-Verbot oder das geschlechtergerechte Erbrecht, betreffen jahrhundertealte patriarchalische Traditionen, die in der vorherrschenden Kultur fest verankert sind. Daher soll die Verwirklichung der in den Frauengesetzen enthaltenen Werte und Praktiken prozesshaft und nicht mit Gewalt und Zwang geschehen. So kommt es vor, dass die Frauengesetze in verschiedenen Regionen unterschiedlich greifen und umgesetzt werden. Es lässt sich jedoch festhalten, dass die autonome Frauenorganisierung, der Ko-Vorsitz, die Fraueneinheiten in innerer Sicherheit und im Militärischen, sowie die Frauenhäuser und die Rolle der Frauen im Recht und weiteren gesellschaftlichen Institutionen aus Nord- und Ostsyrien zur relativen Normalität geworden sind. Als feministische Errungenschaften und Werte bilden sie das Fundament der Rojava-Revolution. Die Frauengesetze und der Gesellschaftsvertrag verankern diese ideellen und institutionellen demokratischen Errungenschaften auf rechtlicher Ebene zu tatsächlichen wie auch forcierten gesamtgesellschaftlichen Normen.