Erdoğans Versuch seine Macht zu retten

Mustafa Karasu, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), über die vermeintliche Kandil-Operation, 14.06.2018

Die AKP gelangte zu einer Zeit an die Macht, in der die kurdische Freiheitsbewegung eine Waffenruhe erklärt und ihre bewaffneten Kräfte aus der Türkei zurückgezogen hatte. Sie stellte damals Demokratie und Freiheit in Aussicht. Der neu gegründeten AKP wurde der Weg zur Machtergreifung geebnet, indem die Wirtschaftskrise, verursacht durch den 15 Jahre währenden brutalen Krieg in der Türkei, der Ecevit-Regierung angekreidet wurde. Der AKP gelang es mit ihrem Versprechen von Demokratie und Freiheit die Unterstützung zahlreicher innerer und äußerer Kräfte zu gewinnen. Die Kurdinnen und Kurden lenkte sie mit der von ihr in Aussicht gestellten Lösung der kurdischen Frage ab. Kurz nach der Machtergreifung hatte Erdoğan noch davon gesprochen, es gäbe so lange kein kurdisches Problem, wie man nicht daran denke. Auf diese Verleugnungspolitik antwortete die Guerilla mit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes, der Erdoğan letztendlich dazu zwang, folgendes anzuerkennen: „Es gibt ein kurdisches Problem und es ist auch mein Problem“. Doch außer Ablenkungsmanövern unternahm er keine wirklichen Schritte zur Lösung der kurdischen Frage. Diese Ablenkungspolitik endete im Sommer 2014, als ein „Vernichtungsplan“ angefertigt wurde: Am 30. Oktober 2014 entschied der Nationale Sicherheitsrat die kurdische Freiheitsbewegung mit Gewalt zu zerschlagen. Der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan versuchte diese Kriegspläne durch seine Roadmap, das darauf basierende Dolmabahce-Abkommen und mithilfe der Wahlen vom 7. Juni 2015 zu verhindern. Doch Erdoğan nutzte die Kriegsentscheidung als Grund, um diese Schritte ins Leere laufen zu lassen und begann am 24. Juli 2015 mit einem umfassenden Krieg. Seither verfolgen Erdoğan und die AKP das Ziel der eigenen Machterhaltung durch die Zerschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung und der Vollendung eines Völkermordes an den Kurdinnen und Kurden.

Doch die AKP konnte trotz ihrer faschistischen Bündnisse und all ihrer seit drei Jahren genutzten Mittel, mit deren Hilfe die kurdische Freiheitsbewegung und das kurdische Volk angegriffen werden, ihre Ziele nicht erreichen. Stattdessen sieht sie sich heute mit der Gefahr konfrontiert zusammen zu brechen und ihre Macht zu verlieren. Für diesen seit drei Jahren andauernden Krieg, der zum Großteil von Methoden der speziellen Kriegsführung geprägt ist, nutzte sie alle inneren und äußeren Möglichkeiten. Sie verkaufte alles, was die Türkei zu bieten hatte, nutzte offen Mittel der Erpressung und brachte alle gesellschaftliche Kreis mit der Losung „Heimat, Nation, Sakarya“ zum Schweigen. Doch sie gelangte nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Ihre aggressive Innen- und Außenpolitik, die auf einer kurdenfeindlichen Haltung basiert, führte sie nicht wie erwünscht innerhalb kurzer Zeit zu Ergebnisse. Die Folge waren stattdessen zunehmende Konflikte mit zahlreichen Kräften im Inneren und auch außerhalb der Türkei. Ihre Politik, die sich nur um den eigenen Machterhalt dreht, brachte im In- und Ausland zahlreiche oppositionelle Kräfte hervor. Auch die Anheizung chauvinistischer Einstellungen auf Grundlage der Kurdenfeindlichkeit, mit der alle zu einem Anhängsel der eigenen Macht werden sollten, konnte nicht verhindern, dass überall oppositionelle Kräfte entstanden.

Im Jahr 2018 befindet sich die AKP-MHP-Allianz im In- und Ausland in ihrer schwächsten Phase. Auch wenn sie mithilfe des Angriffes auf Afrin versuchte, ihre eigene Position zu stärken und somit ihre Macht zu sichern, sehen wir nun, dass die Besatzung Afrins keine gesellschaftliche Unterstützung für die Aufrechterhaltung der Macht der AKP-MHP produzieren konnte. Es war ursprünglich beabsichtigt gewesen, mit der durch die Afrin-Besatzung kreierten Unterstützung bei den Wahlen anzutreten und durch einen Sieg den Krieg im In- und Ausland, wie auch den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden zu legitimieren. Denn eine derart intensive und brutale Kriegspolitik kann ohne eine starke Legitimität nicht erfolgreich umgesetzt werden und droht stattdessen in einem großen Fiasko zu enden. Eine andauernde Feindschaft gegenüber jeglichen demokratischen Prinzipien und eine Völkermordpolitik gegenüber den Kurdinnen und Kurden kann nicht von einer Regierung durchgeführt werden, deren eigene Machtposition geschwächt ist. So ist zu beobachten, dass sich die seit drei Jahren andauernde brutale Politik des AKP-MHP-Faschismus, die nicht zu den erwünschten Ergebnissen führte, langsam beginnt gegen ihre Verursacher zu richten.

Im Rahmen der vorgezogenen Neuwahlen, mit der die derzeitige Politik legitimiert werden soll, kommt es nun zu Entwicklungen, durch welche die Macht der AKP-MHP geschwächt wird. Weder die Wahl Erdoğans als Präsident, noch die Sicherung einer Parlamentsmehrheit scheint möglich. Die Allianz der AKP und MHP sieht sich mit einem Verlust ihrer Macht bedroht. Wie alle faschistischen Regierungen wendet sie sich in dieser Situation wieder verstärkt einer chauvinistischen Politik zu. Wie sehr der AKP-MHP-Faschismus in Bedrängnis geraten ist, zeigen die Schlagzeilen über Minbic. Die Verhandlungen zwischen dem US-Außenministerium und seinem türkischen Counterpart werden als große Erfolge verkauft. Doch die bezüglich Minbic verhandelten Punkte enthalten wenig Neues. Vielmehr handelt es sich um die Bekräftigung von Abmachungen, die bereits vor Beginn des Krieges in Minbic vereinbart worden waren: Nach der Vertreibung des Islamischen Staates (IS) sollte Minbic von der einheimischen Bevölkerung verwaltet und die Verteidigung der Region von dem Minbic-Militärrat gewährleistet werden. Genau dies wird derzeit in Minbic umgesetzt. Die Bevölkerung Minbics organisiert die Selbstverwaltung und der Militärrat der Stadt die Selbstverteidigung. Den türkischen Staat stört dabei, dass die einheimische Bevölkerung Minbics nichts von den mit der Türkei verbündeten Gruppen hält. Die Bevölkerung Minbics hat ein System aufgebaut, dass weder fanatisch-religiös, noch nationalistisch ist. Stattdessen können sich alle verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen im Rahmen eines demokratischen Systems autonom organisieren und ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen aufbauen. Sie haben ein politisches, gesellschaftliches und kulturelles Leben aufgebaut, das ein Vorbild für ganz Syrien darstellt. Die Türkei möchte dieses Modell zerschlagen, da es den Finger in die Wunde des undemokratischen, faschistischen Regimes in der Türkei legt. Die Region ist weder in den Händen der PYD, noch wird sie von der YPG kontrolliert. So wurden auch die letzten Berater der YPG aus dem Minbic-Militärrat zurückgezogen.

Warum also stellt die Türkei die Minbic-Verhandlungen so übertrieben dar? Die Region wird bereits von der einheimischen Bevölkerung verwaltet. Ohne militärische Mittel erscheint es unmöglich, dieses Verwaltungssystem zu verdrängen. Die Machtergreifung einiger Kollaborateure der Türkei unter solch demokratischen Bedingungen erscheint unmöglich. Daher können viele Dinge, die derzeit bezüglich Minbic verkündet werden, als Wahlkampfpropaganda verstanden werden. Wenn versprochen wird, die Bevölkerung Minbics werde sich selbst verwalten, wird nur der aktuelle Zustand beschrieben. In keinem Teil Nordsyriens herrscht eine Gruppe über eine andere. Überall wurden basisdemokratische, kommunale Strukturen aufgebaut: Jeder Stadtteil, jede Kleinstadt und jede Stadt wird von der dortigen Bevölkerung verwaltet, und zwar auf die demokratischste Art und Weise. Aus diesem Grund handelt es sich bei den Aussagen, das Minbic-Modell werde auf ganz Nordsyrien ausgeweitet um nichts anderes als Demagogie und Propaganda. Wenn die USA also der Türkei zusagen, dass alle Regionen von den dort lebenden Menschen verwaltet werden, gehen sie keinerlei Verpflichtung ein. Sie sprechen nur aus, was vor Ort bereits Realität ist. Der türkische Staat akzeptiert eigentlich nicht, dass die Region basisdemokratisch verwaltet wird. Er versucht stattdessen äußere Akteure aufzuzwingen. Es ist jedoch unmöglich, dass irgendeine Kraft derlei Pläne akzeptieren bzw. von der Türkei dazu gezwungen werden. Am Ende wird die Türkei gezwungen sein zu akzeptieren, dass die Gesellschaft sich überall selbst verwaltet.

Minbic derart stark auf die Tagesordnung zu setzen ist also nichts weiter als eine Wahlkampfkampagne der AKP. Doch da dies nicht ausreicht, um die Wahlen zu gewinnen, wird nun auch eine Kandil-Operation öffentlich diskutiert. Ohne Zweifel würde die AKP-MHP nicht eine Sekunde warten und Kandil sofort angreifen, wenn sie die Kraft dafür hätte. Wenn sie dies bisher nicht getan hat, dann nur aus dem Grund, dass ihr die Kraft dazu fehlt. Der türkische Generalstabschef Yaşar Büyükanıt beschrieb vor einigen Jahren, warum sie nicht nach Kandil marschieren können: „Es ist nicht einfach dorthin vorzudringen. Dort gibt es Täler und Berge, die nicht zu kontrollieren sind.“ Nun spricht Erdoğan davon, man werde in Kandil einmarschieren. Devlet Bahçeli spricht bereits seit Jahren davon. Insofern ist der Wunsch nach Kandil zu gelangen nichts Neues.

Wenn also davon gesprochen wird, man werde nach Kandil marschieren, meint man wahrscheinlich eine Besatzung der dortigen Berge und Täler. Denn aus der Luft wird Kandil bereits täglich angegriffen. Dutzende Zivilisten fielen diesen Bombardements bisher zum Opfer. Die Luftangriffe sind also keine neue Entwicklung. Für eine Bodenoperation müsste die Türkei 150-200 Kilometer auf südkurdisches (nordirakisches) Gebiet vordringen. Wie sollen sie diese Distanz überbrücken? Ohne die Unterstützung der KDP sind die Passage der Wege und die Kontrolle über die angrenzenden Gebiete unmöglich. Man erreicht Kandil nicht, indem man ein, zwei Gipfel aus der Luft bombardiert und dort Stellungen aufbaut. Ein derartiger Versuch würde mit einer schweren Niederlage enden. Angesichts dieser Situation wird die Besatzungsoperation gegen Kandil wohl zu einer schweren und langen Angelegenheit. Warum also wurde dieses Thema jetzt auf die Tagesordnung gesetzt? Auch hierbei handelt es sich um psychologische Kriegsführung und Wahlpropaganda. Mithilfe aufgeblasener Kandil-Operationsszenarien wird versucht, Stimmen für die AKP und Erdoğan zu gewinnen. Erdoğan, Devlet Bahçeli und ihre Medienorgane schreien daher angesichts einer sinkenden Wählerzustimmung jeden Tag lauter über neue Kriegspläne.

Würde der türkische Staat also nicht mit einer derartigen Besatzungsoperation beginnen? Er würde auf jeden Fall. Angetrieben von der Angst, die Macht zu verlieren, kann er allerlei Irrsinn unternehmen. Doch das Thema Kandil ist zurzeit nur Wahlkampfpropaganda. Wenn sie an ihren eigenen Erfolg glauben, können sie sofort mit der Operation beginnen. Doch leichten Herzens werden sie damit nicht beginnen. Denn sie fürchten sich vor dem zu erwartenden Widerstand und ihrer drohenden erzwungenen Flucht. Ein derartiger Versuch würde zu einer Phase des Krieges zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat führen, die historische politische Ergebnisse zur Folge haben würde. Das wäre unvermeidlich.

Bei dem Thema einer Kandil-Operation handelt es sich derzeit also um reine Wahlkampfpropaganda. Doch in Südkurdistan (Nordirak) ist eine Besatzung derzeit Realität. In Xakurkê wurden einige Berggipfel besetzt. Die Guerilla leisten einen erbitterten Widerstand gegen die Besatzung. Die auf den Gipfeln stationierten türkischen Soldaten erleiden jeden Tag Verluste und müssen durch neue Kräfte ersetzt werden. Sie können sich nicht zurückziehen, da sie ihre Anwesenheit zu einer Sache der Ehre erklärt haben. Auf eine Art wurden die türkischen Soldaten dort der Guerilla wie zum Fraß vorgesetzt. Im Falle einer Operation gegen Kandil werden sie in eine noch schlimmere Situation als derzeit in Xakurkê geraten. Denn eine sich ausweitende Besatzung wird einen sich ausweitenden Widerstand nach sich ziehen. Nicht nur die Guerilla, auch die Bevölkerung Südkurdistans und alle Völker des Mittleren Ostens werden gegen die türkische Besatzung Widerstand leisten.

Vereinzelte Meldungen, die PKK habe Kandil geräumt, sind daher komplett falsch. Eine Kandil-Operation wird derzeit tagtäglich auf die Tagesordnung gesetzt und künstlich aufgeblasen, um Stimmen für Erdoğan und die AKP zu gewinnen. Aus Sicht der kurdischen Freiheitsbewegung und der Guerilla ist Kandil ein Ort der Abrechnung mit dem türkischen Staat. Kandil ist der Ort, an dem der Krieg gegen den türkischen Staat ausgeweitet und intensiviert werden kann. Die kurdische Freiheitsbewegung hat bereits oft genug die dauerhafte Propaganda und die psychologischen Kriegsoperationen hören müssen. Die staatlichen Medien verbreiten bewusst falsche Meldungen über die Räumung Kandils, um eine psychologische Überlegenheit zu sichern. Der türkische Geheimdienst MIT verfügt zu diesem Zweck über eine Abteilung, die gezielt Falschmeldungen verbreitet. Die gesamten Medien sind derzeit unter der Kontrolle der Regierung, also auch des MIT. Die einzige Funktion der Medien besteht heute darin, Organe der psychologischen Kriegsführung zu sein.