Der Journalist Seyit Evran zu den Hintergründen des türkischen Angriffs auf Afrin und den weitreichenden politischen Folgen des Widerstandes in Afrin; 25.02.2018
Jüngst wurde der Plan entworfen, der seit 33 Tagen zu dem historischen Widerstand in Afrin führt. Dem Plan Russlands und der Türkei zufolge sollte Afrin in einer Woche fallen. Doch Afrin ist nicht gefallen. Der Widerstand in Afrin hat einen neuen Prozess eingeleitet, indem er die Pläne ´Afrin werde besetzt werden´ zunichte gemacht hat. Die USA, Russland und der Iran, aber auch weitere internationale und regionale Mächte werden nun aufgrund dieser Entwicklungen neue Bündnisse und Gleichgewichte suchen. Akteure, die dies nicht tun, werden im Rahmen dieser veränderten Bedingungen in Syrien an Einfluss verlieren.
Viele Akteure wie der syrische Staat, der ohne die Erlaubnis Russlands keine Handlungsmöglichkeiten hat, erwarteten, dass die türkische Armee gemeinsam mit reorganisierten Kämpfern des Islamischen Staates (IS), Al-Kaidas und der Muslimbrüder in einigen Tagen Afrin besetzen würde. Das Erwartete trat nicht ein, die mordenden und plündernden Banden sind seither mit einem heroischen Widerstand konfrontiert. Dieser Widerstand hat die verschiedenen Pläne der internationalen und regionalen Mächte durcheinandergebracht. Die Tatsache, dass nach 32 Tagen die Grenzsicherung Afrins durch eine militärische Vereinbarung an die syrische Regierung übergeben wurde, hat diesen Plan komplett zunichte gemacht.
Quellen aus den Reihen des Systems weisen darauf hin, dass diese Vereinbarung die Autonomie und die Föderation Nordsyriens beeinflussen werde. Dieser Diskurs zeigt, dass diese Stimmen weder die nordsyrische Revolution und das System der demokratischen Föderation verstanden haben, noch die Föderationssysteme anderer Staaten verstehen bzw. verstehen wollen.
Um sich gegen innere Angriffe zu wappnen, müssen sich in föderativen und autonomen Systemen die Verwaltungen gemeinsam mit den Selbstverteidigungskräften organisieren. Gegenüber äußeren Angriffen muss die Föderation gemeinsam mit dem jeweiligen Staat die Landesgrenzen verteidigen. Seit dem ersten Tag der Rojava-Revolution bis zu ihrer Institutionalisierung in Form der Demokratischen Föderation Nordsyrien wurden keine Aussagen bezüglich einer Unabhängigkeit vom syrischen Staat vorgenommen. Zudem wurden seit dem Anfang der Revolution mehrere Erklärungen veröffentlicht, die besagen, dass eine Lösung innerhalb Syriens nötig ist, um den Bürgerkrieg zu beenden. Um die Probleme zu lösen, wurden unter Vermittlung Russlands seit 2013 mehrere Treffen mit der Regierung in Hymemim durchgeführt. Russland leitete die Forderungen, die von der Föderation an die syrische Regierung gestellt wurden, an diese weiter und ließ unter russischer Vermittlung Gespräche zu. Dies alles waren Schritte, um zu einer Vereinbarung mit der syrischen Regierung zu gelangen, bei der Verteidigung des Landes zusammen zu arbeiten, ein gemeinsames demokratisches System zu errichten und die Probleme auf diesem Weg gemeinsam zu lösen. Russland hat sich einerseits als ein Akteur positionoert, der eine innere Lösung möchte. Andererseits versuchte Russland durch einen schmutzigen Plan mit der Türkei dieses System zu vernichten. Die Türkei hingegen versuchte die Situation zu nutzen, um einen Teil Syriens zu besetzen. Schon vorher hatten russisch-türkische Absprachen dazu geführt, dass Dscharablus, Bab und Azes durch die Türkei besetzt wurden.
Zuletzt wurde der Plan entworfen, der seit 33 Tagen zu dem historischen Widerstand in Afrin führt. Dem Plan zwischen Russland und der Türkei zufolge, sollte Afrin in einer Woche fallen. Doch Afrin ist nicht gefallen. Die Volksverteidigungskräfte beweisen seither durch einen historischen Widerstand gegen die zweitgrößte NATO-Armee, dass sie ihr Land verteidigen werden. Dieser Umstand führte dazu, dass Russland sein Verhältnis zur Türkei änderte. Russland begann, wenn auch nicht offiziell, Missbilligung gegenüber dem Angriff der Türkei zu zeigen. Schließlich zog Russland sich zurück und verlautbarte, dass die Türkei mit der syrischen Regierung in Kontakt treten müsse. Das kommt folgender Nachricht an die Türkei gleich: ´Ich habe dir die Erlaubnis für die Besatzung gegeben. Du hast es nicht geschafft. Nun ziehe ich mich zurück. Lös dein Problem mit der syrischen Regierung`. Diese Änderung in Russlands Haltung führte auch dazu, dass es bezüglich der Angriffe auf Afrin zu einer Einigung zwischen dem syrischen Regime und der Kantonleitung Afrins kam. Russland übte vor dem Angriff Druck aus, damit Afrin der Regierung übergeben wird. Als die Kantonleitung dies nicht akzeptierte, öffnete Russland den Luftraum für die Türkei und gab damit grünes Licht für Massaker und Zerstörung in Afrin. Russland erwartete, dass Afrin sich nicht verteidigen und sich Syrien ergeben würde. Allerdings machte der Widerstand diese Erwartungen zunichte und sorgte dafür, dass die Vereinbarung zur Grenzsicherung zustanden kamen. Daher wurde ein Abkommen getroffen, dass in allen föderal organisierten Ländern angewendet wird; eine Vereinbarung, deren Umsetzung normal ist.
Russland selbst ist föderal organisiert. Die föderalen Gebiete sind in Bezug auf ihre inneren Angelegenheiten unabhängig. In äußeren Angelegenheiten und Verteidigungsangelegenheiten agieren sie in Absprache mit der Regierung. Die Vereinbarung, dass die syrische Armee nach Afrin kommt und an der Grenze gegen den Besatzerstaat Türkei positioniert wird, steht nicht im Widerspruch zum Gedanken des föderalen Systems. Im Gegenteil: Es handelt sich hierbei um eine Maßnahme, die das föderale System vervollkommnet und eine Lösung in Syrien näher bringt. Es ist eine Vereinbarung, die nichts mit der Auflösung der Föderation Nordsyriens zu tun hat.
Der Angriff hat den Plan und die Gleichgewichte zerstört
Der Versuch der Besetzung Afrins erfolgte vor dem Hintergrund eines widersprüchlichen und konfliktträchtigen Gleichgewichts zwischen den USA, Russland, dem Iran, der Türkei und der EU.
Russland erhoffte sich durch die Besatzung Druck auf die Föderation Nordsyrien ausüben zu können und Syrien nach seinem eigenem Willen zu strukturieren. Die USA hingegen – auch wenn sie wirkt, als hätte sie eine konträre Position zur Türkei – wird die Türkei für einen zukünftigen Angriff auf den Iran brauchen und begnügt sich deshalb mit passiven Erklärungen wie ´Wir sind besorgt, der IS kann an Boden gewinnen´. Auch wenn die USA den Anschein erweckt, als wäre sie gegen den türkischen Angriff, unterstützte sie die Operation insgeheim. Dass die USA im Dezember die Mutassim-Billa-Gruppe nach Washington einlud und diese nun in dem Besatzungsangriff in den Reihen der Türkei mitkämpft zeigt, wie die USA die Operation verdeckt unterstützen. Mustafa Al Sadschari und Ahmet Hafez Yassir Hadji – die stellvertretend für Mutassim-Billa nach Washington eingeladen wurden – erklärten, dass eine neue FSA gegründet werde, um gegen den Iran und die Hisbollah in Syrien vorzugehen. Dass diese Gruppe nun an dem Besatzungsangriff gegen Afrin teilnimmt, ist eigentlich nur der Vorbote einer türkisch-amerikanischen Intervention gegen den Iran. Der Iran positionierte sich dementsprechend gegen den Besatzungsangriff, weil er glaubt, dieser richte sich auch gegen ihn. Die EU-Staaten, vor allem Frankreich, haben Pläne für die Wiederaufnahme freundschaftlicher Beziehungen zur Türkei. Deutschland ist ein Teil davon, vornehmlich durch Waffen und andere politische und wirtschaftliche Abkommen. Immer wieder wurde vor dem Hintergrund des zivilen Massakers und der Zerstörung Afrins ein künstliches Gleichgewicht geschaffen. Der Widerstand erschütterte dieses Gleichgewicht. Das Abkommen mit der syrischen Regierung zerstörte dieses Gleichgewicht nun vollkommen. Die Suche nach neuem Gleichgewicht hat bereits begonnen.
Politische Ergebnisse und mögliche Entwicklungen
Der einmonatige Widerstand in Afrin zerstörte das künstliche Gleichgewicht zwischen den internationalen und den regionalen Mächten. Auf politischer Ebene handelt es sich hierbei um den größten Sieg des Widerstands. Die Vereinbarung zur Grenzsicherung zwischen Syrien und der Föderation Nordsyrien kann in der nächsten Etappe eine politische Lösung mit sich bringen. Das ist ein weiteres wichtiges politisches Ergebnis.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass verhindert wurde, dass die Türkei mithilfe Russlands ein weiteres Stück Syriens besetzt. Diese Vereinbarung zerstörte das künstliche Gleichgewicht Astanas zwischen Russland, Iran und der Türkei. Somit wurde das trotz ihrer gegenteiligen Positionen gebildete politische Bündnis zerstört. Das ist auch eines der wichtigen politischen Errungenschaften. Russland, die Türkei und der Iran müssen ihre politischen Beziehungen und das Gleichgewicht erneut unter die Lupe nehmen. Zwar wirkten sie wie eine Allianz, doch hatte jedes Land seine eigene Agenda. Alle drei versuchten dieses Bündnis für ihre eigenen Vorteile und sogar gegeneinander zu benutzen. Am meisten trifft das auf die Türkei zu, wollte sie doch die übrigen Mitglieder reinlegen und mit der USA gemeinsame Sache machen. Durch den Widerstand in Afrin zeigte sich das wahre Gesicht der Türkei. Russland und Iran begannen deshalb damit das Format der Astana-Gespräche zu verändern: Die Außenminister der Länder des kaspischen Meeres fangen nun an sich in Rahmen von Astanas zu treffen. Das zeigt, dass die Türkei mit der Zeit aus Astana rausgedrängt werden wird.
Das sind die politischen Ergebnisse des Widerstandes. Doch die militärische Vereinbarung wird wichtige Errungenschaften mit sich bringen. Sollte die Türkei ihre Besatzungsangriffe auf Afrin fortführen, bedeutet dies, dass sie den syrischen Staat angreift. Ergo wird die Türkei in diesem Fall Syrien den Krieg erklären müssen. Das würde bedeuten, dass der faschistische Besatzerstaat Türkei beginnt seinen regionalen Krieg ganz offen zu führen, den er 1998 unter dem Vorwand der Anwesenheit des Repräsentanten des kurdischen Widerstands Abdullah Öcalan bereits durch einen Angriff auf Syrien beginnen wollte.
Im Original erschien der Artikel am 21.02.2018 unter dem Titel “Direnişin sonuçları, altüst olan dengeler ve olası gelişmeler…” auf der Homepage der Nachrichtenagentur Firatnews (ANF).