Erklärung der Hungerstreikenden in Straßburg

strassbourg hungerstreikAlle, die die Türkei besser kennen, betonen zu Recht, dass die kurdische Frage das zentrale Problem der Türkei darstellt. Wenn ein Problem nicht richtig definiert wird, bringen die vermeintlichen „Lösungen“ nichts als weiteren Schaden. Die kurdische Frage ist sicherlich kein „Terrorismusproblem“, auch wenn dies beharrlich vorgebracht wird.

Die Kurden leben seit nunmehr 40 Jahren im Kriegszustand. Die Kurden, eines der ältesten Völker der Geschichte, sind aufgeteilt zwischen der Türkei, dem Iran, und den arabischen Staaten Irak und Syrien, und müssen ein Leben ohne Freiheit leben. Selbst im heutigen angeblichen „Zeitalter der Demokratie und der Freiheit“ wird den Kurden das Recht verweigert, die eigene Sprache zu sprechen, ihre Tradition und ihre Kultur zu leben. In Syrien, dem Iran und der Türkei ist es weiterhin verboten, Kurdisch zu sprechen oder schreiben. Die Kurden verfügen als eigenständiges Volk in diesen drei Ländern über keinen politischen Status.

Innerhalb dieser drei Staaten ist es die Türkei, welche eine speziellere und systematischere Unterdrückungspolitik gegen die Kurden betreibt. Sie versucht starrköpfig, eine politische Frage, die annähernd 40 Mio. Kurden betrifft, als Terrorproblem darzustellen. Sie versucht, die Forderung nach Frieden, Demokratie und Freiheit mit aller Gewalt zu unterdrücken und die gesamte kurdische Gesellschaft als Terroristen zu diffamieren. Mit dem Ergebnis, dass heute die Türkei weltweit an erster Stelle steht, wenn es um die Zahl der Inhaftierungen wegen Terrorvorwürfen geht. Insbesondere infolge der verstärkten Festnahmewellen der letzten drei Jahre befinden sich aktuell sechs Abgeordnete, 31 gewählte BürgermeisterInnen, 96 JournalistInnen, 36 AnwältInnen, 183 ParteifunktionärInnen, unzählige GewerkschafterInnen, MenschenrechtlerInnen, Frauenaktivistinnen und SchülerInnen im Gefängnis. Die Gesamtzahl der inhaftierten kurdischen politischen AktivistInnen beläuft sich auf etwa 9000 [1]. Darunter befinden sich mehr als 2000 Kinder, die in der Presse als „Steine werfende Kinder“ bekannt wurden.

Neben den politischen Operationen wurden in den letzten Monaten die militärischen Operationen seitens des türkischen Staates wieder verstärkt. Jegliches internationale Recht missachtend wurden hierbei 41 Zivilisten ermordet, gegen die Guerillakräfte wurden chemische Waffen eingesetzt und auf beiden Seiten gab es Dutzende von Toten.

Mittäter bei diesem Staatsterror der Türkei gegen die Kurden sind auch die USA und die Europäische Union. Diese Mittäterschaft besteht nicht allein in der fehlenden Kontrolle und Zurechtweisung der Türkei. Die USA und die EU unterstützen den türkischen Staat auch aktiv in diesem Krieg: militärisch, politisch, ökonomisch sowie diplomatisch.

Die USA stellen dem türkischen Staat ihre Drohnen und ihr gesamtes geheimdienstliches Instrumentarium zur Verfügung. Die Europäischen Staaten hingegen, allen voran Deutschland und Frankreich, schweigen demonstrativ zu den Massakern des türkischen Staates und ermuntern so den türkischen Staat, mit seinem Terror fortzufahren. Gegenüber dem Massaker von Roboskî vom 28.Dezember 2011, bei dem durch den Angriff türkischer Kampfflugzeuge 34 kurdische Dorfbewohner ums Leben kamen, wurde in Europa keine einzige Stimme laut. In der Erklärung der USA hieß es lediglich: „Wir stehen hinter der Türkei“.

Mit den Angriffen der der letzten fünf bis sechs Monate bezweckt der türkische Staat, den Freiheitskampf und den legitimen Widerstand des kurdischen Volkes zu ersticken. In diesem Kontext wurde zu allererst der Vorsitzende des kurdischen Volkes Abdullah Öcalan einer verschärften Isolationshaft ausgesetzt. Öcalan wird von einem großen Teil des kurdischen Volkes als sein politischer Repräsentant angesehen. Zudem sehen die KurdInnen das Schicksal Öcalans in Verbindung mit ihrem eigenen Schicksal: seine Gefangenschaft wird als ihre Gefangenschaft und seine Freiheit als ihre Freiheit angesehen.

Der türkische Staat hält wegen der Unterstützung des Europarats und des Europäischen Parlaments an der Isolation Öcalans fest. Seit dem 27. Juli 2011 konnte Öcalan nicht mit seinen Anwälten sprechen. 36 Anwälte wurden alleine wegen des Vorwurfs, Öcalans Anwälte zu sein, verhaftet und ins Gefängnis geworfen. In dieser Zeit wurde auch der Kontakt Öcalans zu seinen Angehörigen unterbunden.

Noch vor einem Jahr befand sich der türkische Staat im Dialog mit Öcalan und führte mit ihm Verhandlungen. Damit hatte ein Prozess begonnen, der jedoch durch die Weigerung des Staates, die notwendigen nächsten Schritte zu gehen, abgebrochen wurde. An die Stelle des Dialogs trat die Politik des Krieges und der Gewalt. Man kann Abdullah Öcalan nicht als gewöhnlichen Gefangenen betrachten. Sowohl bei seiner illegalen Entführung aus Kenia am 15. Februar 1999 als auch bei der Frage seiner Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali spielten und spielen die USA und Europa eine bestimmende Rolle. Es ist bekannt, dass Imrali unter der Aufsicht des Europarats steht.

Der Europarat und seine Organe sind Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte des kurdischen Volkes wegen des Staatsterrors in Kurdistan und der siebenmonatigen Isolationshaft Öcalans sind. Dass sie jedoch ihrer Verantwortung nicht einmal in minimaler Weise gerecht werden, zeigt, dass sie sich in diesen Fällen parteiisch verhalten.

Trotz dieser ungerechten Behandlung beharren die Kurden weiterhin auf einem freien, gerechten und gleichberechtigten Status. Hierfür ist die wichtigste Voraussetzung, dass die unrechtmäßige und willkürliche Isolation von Abdullah Öcalan, der als Schlüsselfigur für die Lösung der kurdischen Frage Verhandlungen mit dem türkischen Staat geführt hat, umgehend beendet wird. Das kurdische Volk macht sich ernsthafte Sorgen um die Gesundheit und das Leben Öcalans. Deswegen haben in den Gefängnissen der Türkei 400 Menschen mit einem Todesfasten begonnen. Außerhalb der Gefängnisse werden sie von zehntausenden Kurden unterstützt.

Als eine Gruppe von Kurden, die ihre Seele der Demokratie und der Freiheit gewidmet hat, werden wir am Donnerstag, dem 1. März 2012 ab 12 Uhr für ein Ende des politischen und militärischen Genozids an den Kurden mit der Forderung „Freiheit für Abdullah Öcalan – einen Status für Kurdistan“ in einen UNBEFRISTETEN HUNGERSTREIK treten.
Unsere Forderungen lauten:

  1. Das Problem der bedrohten Gesundheit und Sicherheit Öcalans muss umgehend auf die Tagesordnung des Europarats und seiner Institutionen gesetzt werden, um die bestehenden Befürchtungen auszuräumen.
  2. Die verschärfte Isolation Öcalans, die das kurdische Volk nicht nur massiv beunruhigt, sondern auch Ursache für einen großen Krieg mit vielen Toten werden könnte, muss unverzüglich aufgehoben werden. Die Möglichkeit der Konsultation mit seinen Anwälten muss geschaffen werden.
  3. Die internationalen Institutionen, allen voran der Europarat, müssen Initiativen zur Freilassung Öcalans und für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage ergreifen.
  4. Der Europarat muss wegen der Unterdrückungs- und Gewaltpolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurden den „Monitoring“-Prozess wieder aufnehmen. Bei Beharren der Türkei auf ihrem bisherigen Kurs muss ihre Mitgliedschaft suspendiert werden.
  5. Die EU und die Staaten Europas sollten von ihrer Unterstützung der türkischen Gewalt- und Verleugnungspolitik ablassen und ihre Einflussnahme allein auf die gerechte und friedliche Lösung der kurdischen Frage konzentrieren. Erster Schritt hierfür ist, dass die kurdische Freiheitsbewegung von der Terrorliste gestrichen wird, auf die sie zu Unrecht gesetzt wurde.
  6. Damit die kurdische Frage in demokratische und politische Kanäle gelenkt werden kann, muss unverzüglich dafür gesorgt werden, dass für Abdullah Öcalan Bedingungen geschaffen werden, in denen er politisch agieren kann. Hierfür müssen internationale Organisationen und Institutionen umgehend die Initiative ergreifen.
  7. Zuletzt fordern wir die internationale demokratische Öffentlichkeit und ihre Organisationen dazu auf, aktiv den Kampf des kurdischen Volkes für Demokratie, Freiheit und Frieden zu unterstützen und sich zu solidarisieren.

 [1] Im Rahmen der seit April 2009 begonnen KCK-Operationen wurden mehr als 9000 Menschen festgenommen. Laut einer Aussage des BDP Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas sind 6300 von ihnen Mitglieder der BDP.

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