Ercan Ayboga, Initiative zur Rettung von Hasankeyf, im Interview mit Civaka Azad zum aktuellen Stand in Hasankeyf, 01.08.2019
Die Flutung von Hasankeyf hat ohne offizielle Vorwarnung begonnen. Wie ist der aktuelle Stand?
Der Aufstau des Ilisu-Stausees geht weiter, wie ein weiteres Satellitenbild vom 29. Juli 2019 zeigt. Es ist nach dem 19. und 24. Juli 2019 das dritte Foto, das wir erhalten haben. Bisher dürfte der Stausee nach unseren Schätzungen bis zu 15 Meter hoch sein.
Der Aufstau muss irgendwann zwischen dem 20. und 22. Juli 2019 begonnen haben, also genau um die Zeit des Brandes auf der Hasankeyf-Burg, der viele Pflanzen und Tiere tötete und dutzende Höhlen und Gebäude beschädigte. Es kann gut sein, dass dieser Brand bewusst gelegt wurde, um vom Aufstau abzulenken.
Dass es keine Informationen seitens der zuständigen staatlichen Wasserbehörde DSI gibt, ist ein Skandal. Für die im Tal lebenden und verkehrenden Menschen besteht Lebensgefahr. Es geht auch darum, stillschweigend einen gewissen Aufstau zu realisieren, um die Gesellschaft vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Noch sind einige Dörfer teilweise überflutet worden. Die große Vertreibung hat noch nicht begonnen. Die DSI hat den Betroffenen zu Beginn des Aufstaus mitteilen lassen, dass es sich um einen Probeaufstau handele. Die Bilder zeigen jedoch, dass es ein richtiger Aufstau ist, egal wie er benannt wird und egal, ob es langsam vorangehen soll. Den Plänen des DSI ist zu entnehmen, dass der Stausee im November Hasankeyf erreichen soll.
Das sind nur Pläne. Wichtig ist es, dass wir dem entgegen halten und die Pläne nicht verwirklicht werden. Hinzu kommt, dass eine Reihe von Bauarbeiten im Zusammenhang mit dem Ilisu-Projekt noch nicht abgeschlossen ist.
Die Hasankeyf-Koordination hat zu Protesten aufgerufen. Wie sieht der gegenwärtige Protest aus?
Die Hasankeyf-Koordination wurde am 5. Juli 2019 von Gruppen wie unserer Initiative zur Rettung von Hasankeyf ins Leben gerufen. Ziel ist es, möglichst viele Organisationen und Menschen in der gesamten Türkei zusammenzubringen im Kampf gegen den zerstörerischen Ilisu-Staudamm. Dies hat eine gewisse Bewegung in die Gesellschaft gebracht und heute reden viele Menschen und Organisationen wieder über Hasankeyf und Ilisu. Dazu haben zunächst die dritten globalen Aktionstage vom 7. und 8. Juni 2019 beigetragen. Dann gab es in rund zehn Städten Kundgebungen und Mahnwachen, außerdem ein Konzert in Istanbul mit 20 Musiker*innen. Das zweite große Ereignis war der „Big Jump“ am 14. Juli. Hunderte Menschen wollten sich in Hasankeyf versammeln und aus Protest gegen das Ilisu-Projekt im Tigris schwimmen. Doch das Militär verhinderte es. So gingen sie an einen 30 Kilometer entfernten Ort am Batman-Fluss. Genauso wichtig waren Soli-Aktionen in rund zehn Orten der Türkei. Vom Schwarzen Meer bis zum Mittelmeer gab es wunderschöne kleine Aktionen diverser Gruppen und Menschen, die ins Wasser sprangen.
Die Proteste und die Kritik ab Ende Mai 2019 haben dazu geführt, dass der Staat den für den 10. Juni geplanten Aufstau aufschieben musste. Jetzt geht es darum, dass der Protest anhält. Diesbezüglich gibt es einige Aktionen und Planungen. Sowohl in Êlih (Batman) als auch in Amed (Diyarbakir) gibt es Strukturen, welche die Kampagne vor Ort vorantreiben wollen. Eine der geplanten Aktivitäten der Kampagne ist eine Wache des Widerstands in Hasankeyf. Zwei Versuche wurden vom Staat mit Gewalt verhindert. Doch wird dies sehr bald in neuer Form versucht werden. Ein anderer Ort, an dem Aktivist*innen präsent sein wollen, ist direkt am Ilisu-Staudamm, der 77 Kilometer stromabwärts von Hasankeyf liegt.
Ein anderer Fokus der Proteste sind Istanbul, Ankara und andere Großstädte der Türkei. Diese Orte sind wichtig, um Türkei-weit Öffentlichkeit zu schaffen, weil viele Medien – auch linke und demokratische – in Nordkurdistan kaum präsent sind. Hasankeyf und der Tigris gehen uns alle an. Hasankeyf ist der älteste ununterbrochen besiedelte Ort der Menschheit und ein unvergleichbarer Kulturort. Der Tigris ist der letzte große einigermaßen natürlich fließende Fluss in der Türkei und im Mittleren Osten. Nirgends würde so viel verloren gehen. Deshalb ist es wichtig, dass die demokratische Kräfte sich zusammen dagegen stellen. Das ist möglich, denn Hasankeyf kennen praktisch alle Menschen im Staate Türkei. Auch wenn der Bau weitgehend abgeschlossen ist, gibt es gerade deswegen eine Chance, dieses Projekt zu stoppen.
In den nächsten Wochen und Monaten wollen wir, dass sich Künstlerinnen und Künstler aktiv zu Wort melden und an den geplanten Konzerten und Kunstaktionstagen beteiligen. Dazu wird es in ein bis zwei Wochen mehr Infos geben. Mit einigen Aktionen wollen wir groß in die Öffentlichkeit. Denn der Protest muss groß sein, um Ilisu zu stoppen. Es werden Aktionsformen sein, an denen sich jeder Mensch beteiligen kann. Wir suchen die Zusammenarbeit mit anderen ökologischen Bewegungen; die Solidarität muss noch stärker werden.
Gibt es internationale Reaktionen?
Ja, diese gibt es. Doch nicht, wie wir es uns wünschen. Kritik kommt seit 2012 aus dem Irak, wo es mit der Save the Tigris Campaign (www.savethetigris.org) eine Organisation gibt, die in der irakischen Gesellschaft aufklärt, von der Türkei den Stopp des Ilisu-Staudamms und anderer Talsperrenprojekte am Tigris fordert und die passive irakische Regierung zum Handeln aufruft. In letzter Zeit gibt es von einigen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem Iran, aus Rojava und sogar aus dem Libanon Kritik.
In Europa gab es zwischen 2006 und 2009 viel Beteiligung an der Ilisu-Kampagne. Seit wir 2015 zu globalen Hasankeyf-Aktionstagen aufrufen, nimmt die Solidarität aus den Gebieten außerhalb des Mittleren Ostens zu. An den dritten globalen Aktionstagen im Juni 2019 und am „Big Jump“ im Juli nahmen Menschen in mehr als 20 Orten teil, was erfreulich ist. Das muss weitergehen und dabei mehr werden. Eine Gruppe von Künstler*innen aus Frankreich führt Kunstaktionen an bedeutenden Museen Europas durch, bisher im Louvre, Pergamon-Museum und im Vatikan.
Was können solidarische Menschen tun, um Hasankeyf vor der Überflutung zu retten?
Solidarische Menschen können erst einmal andere Menschen informieren und aufklären. Sie können Veranstaltungen oder Kunstaktionen durchführen und sich natürlich an den globalen Aktionstagen für Hasankeyf und den Tigris beteiligen.
Sie können auch ihre Regierungen und Politiker*innen auffordern, sich gegen das Ilisu-Projekt einzusetzen. Das ist aufgrund der anstehenden Zerstörung universellen Erbes und der internationalen Folgen leicht zu begründen. Sie können auch direkt der türkischen Regierung schreiben und vor den Botschaften und Konsulaten protestieren. Solidarische Personen können direkt die Medien in ihren Orten und Ländern anschreiben, damit diese berichten. Denn die großen Medien berichten viel zu wenig. Wichtig wäre es auch, Ideen für neue Aktionsformen zu entwickeln, um in die internationale Öffentlichkeit zu kommen. Den Einfluss der internationalen Öffentlichkeit darf nicht unterschätzt werden.
Vor allem muss jede Person daran glauben, dass ein Stopp des Ilisu-Projektes möglich ist. Es gibt auf der Welt eine Reihe von Großprojekten wie Talsperren und Atomkraftwerken, die fertig gebaut, jedoch nicht in Betrieb genommen wurden.