Bundeskanzler Olaf Scholz trifft sich morgen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Auf der Tagesordnung stehen voraussichtlich der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Lage im Nahen Osten, Migration sowie bilaterale und wirtschaftspolitische Themen.
Der Bundeskanzler reist mit einer Vielzahl von Präsenten in die Türkei, allen voran das Abschiebeabkommen und weitere Rüstungsexporte. Die Türkeireise von Herrn Scholz erfolgt zudem nach einer Phase der Annäherung zwischen beiden Seiten, insbesondere in Bezug auf die Abschiebungen unzähliger türkischer Staatsbürger*innen, von denen die Mehrheit kurdischer Herkunft ist. Über 84 % der im vergangenen Jahr von türkischen Staatsbürgerinnen in Deutschland gestellten Asylanträge stammen von Kurd*innen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung beschlossen hat, Menschen in einen Staat abzuschieben, in dem grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien nicht eingehalten werden und nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Abgeschobenen willkürlichen staatlichen Repressionen und schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Denn die Abschiebungen erfolgen in ein Land, dem die UN in ihrem jüngsten Bericht einen zunehmenden Einsatz von Folter attestiert und in dem es zehntausende politische Häftlinge gibt, darunter tausende kurdische Politiker*innen, Aktivist*innen, Akademiker*innen und Bürgermeister:innen.
Menschenrechtsverletzungen in der Türkei weiterhin systematisch ignoriert
Auf dem Rechtsstaatlichkeitsindex des World Justice Project” belegt die Türkei Platz 117 von 142 Staaten. Minderheiten und Oppositionelle werden in der Türkei brutal verfolgt, auch Femizide sind im internationalen Vergleich auf einem Höchststand. Eine Vielzahl von Berichten und Gutachten zeichnen ein erschreckendes Bild der Menschenrechtssituation in der Türkei, insbesondere in Bezug auf Kurd*innen. Die türkische Justiz agiert dabei weit entfernt von rechtsstaatlichen Prinzipien. Umso erschreckender ist es, dass die Bundesregierung auf die Frage, ob im Rahmen der Türkeireise von Herrn Scholz auch Themen wie Menschenrechte besprochen werden sollen, bisher ausweichend antwortet. Seit Jahren kritisieren wir mit Bezug auf die Lage vor Ort, dass die Türkei kein Rechtsstaat ist und insbesondere abgeschobene Kurd*innen Folter und langjährige Haftstrafen erwarten.
Es erscheint besonders absurd, dass ausgerechnet Kurd*innen, die sich im Kampf gegen den “Islamischen Staat” (IS) sowie weitere islamistische Milizen als Speerspitze erwiesen haben und weiterhin erweisen, indem sie mutig gegen den sogenannten “Islamischen Staat” (IS) kämpfen, seit Jahren den militärischen Aggressionen der Türkei ausgesetzt sind und in Deutschland lebende kurdische Asylsuchende auch noch in ein Land abgeschoben werden sollen, dessen Staatspräsident sich unterstützend an die Seite mordender Islamisten und Terroristen in der gesamten Region stellt.
Deutsche Waffen für die Türkei als Zeichen der Freundschaft um jeden Preis?
Die Bundesregierung hat erst kürzlich die Lieferung von Waffen im Wert von 336 Millionen US-Dollar an die Türkei genehmigt. Diese Tatsache ist insbesondere vor dem Hintergrund empörend, dass die Türkei in Kooperation mit islamistischen Milizen im Norden und Osten Syriens sowie im Nordirak immer wieder zivile Ziele und kritische Infrastruktur bombardiert, schwere Kriegsverbrechen begeht und zahlreiche Militärbasen in der Region errichtet hat, wodurch sie die Zivilbevölkerung einem täglichen Terror aussetzt. Die türkische Militäreskalation richtet sich in erster Linie gegen die kurdische Bevölkerung. In den vergangenen Jahrzehnten waren Millionen Menschen aufgrund der türkischen Aggression gezwungen, aus verschiedenen Regionen Kurdistans zu fliehen. Hunderttausende, die weiterhin von dieser Aggression betroffen sind, erwägen eine Flucht nach Deutschland und Europa.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Türkei ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bundesregierung auf der Grundlage des Völkerrechts und der Menschenrechte handelt. Dies beinhaltet die Verhängung eines generellen Abschiebestopps in die Türkei sowie die Beendigung der bisherigen Ignoranz gegenüber Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Ein solches Vorgehen würde einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung eines Friedensprozesses in der Türkei leisten, der auch eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage beinhaltet.
Herr Scholz sollte sich gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten für eine Lösung der kurdischen Frage als Grundlage für Demokratie und Frieden durch einen unverzüglichen Dialog mit der PKK und ihrem Vorsitzenden Abdullah Öcalan einsetzen. In diesem Kontext sollte zudem darauf verwiesen werden, dass der entsprechende Beschluss des Ministerkomitees des Europarates vom September 2024 bindend ist. Darin wird die Türkei aufgefordert, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Öcalan umzusetzen. Der Schlüssel zur Lösung der kurdischen Frage liegt im Dialog, wodurch auch die weitere Demokratisierung der Türkei sowie eine Verbesserung der Menschenrechtslage im Nahen und Mittleren Osten gefördert würde.
Des Weiteren ist es erforderlich, dass Herr Scholz sich für ein Ende der nahezu täglichen völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei sowie für den Rückzug der türkischen Truppen aus den kurdischen Gebieten einsetzt.
Darüber hinaus muss sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass die Türkei ihre Unterstützung für islamistische Milizen beendet. Der pro-islamistische Kurs der Türkei gefährdet nicht nur die Demokratisierung der Türkei, sondern stellt auch eine erhebliche Gefahr für die Sicherheitslage in Deutschland dar.
Auch vor dem Hintergrund der anstehenden Bundestagswahl 2025 ist es von entscheidender Bedeutung, Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Fortschritt in einer glaubwürdigen und gewissenhaften Weise zu vertreten. So ist auch die Ampelkoalition gefordert, endlich eine klare Haltung gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei einzunehmen, sich für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einzusetzen und die Lebensbedingungen der Kurd*innen in Deutschland zu verbessern. Dies erfordert die Beendigung der Kriminalisierung der Kurd*innen und ihrer Institutionen sowie die demokratie- und völkerrechtskonforme Gestaltung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Türkei, dem Iran, Syrien und dem Irak. Die Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens sowie die erfolgreiche Bekämpfung des Islamismus können lediglich dann in Angriff genommen werden, wenn ein ehrliches Interesse daran besteht. Eine Demokratie kann nur unerpressbar bleiben, wenn sie die Grund- und Menschenrechte als ihr höchstes Gut bewahrt.