Serhat Ovayolu für Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 05.04.2017
Wir befinden uns auf dem Weg zum Referendum in der Türkei. Doch dieser Weg wird begleitet von Bedingungen und einer Atmosphäre, die es so in der Türkei noch nicht einmal zu Zeiten der Militärputsche gegeben hat. Der “Putschversuch” vom 15. Juli des vergangenen Jahres hat sich unlängst in einen zivilen Putsch verwandelt. Die Repressionen und Angriffe denen die Menschen seitdem ununterbrochen durch die Regierung ausgesetzt sind, haben mittlerweile einen geradezu institutionalisierten Charakter angenommen.
So können die Experten beim Blick auf die Medienlandschaft in der Türkei eine bereits erfolgreich vollzogene Gleichschaltungspolitik begutachten. Die transportierten Inhalte in den Medien werden mittels einer breitangelegten Zensur- und Selbstzensurpraxis zunächst aus Regierungsperspektive ausgesiebt, bevor sie an die Öffentlichkeit weitergegeben werden. Durch ein ähnliches Verfahren werden auch die Gäste bei den politischen Diskussionsrunden im Fernsehen auserwählt.
Als die Regierung nach dem Putschversuch mittels Gesetzesdekrete unzählige oppositionelle Zeitungen, Fernseh- und Radiosender schließen ließ, hat sie eine Einheit in ihren Reihen gebildet, die sich explizit um die “Medienpolitik” im Ausnahmezustand kümmert. Die Existenz einer solchen Gruppe ist kein Geheimnis. Ihre Funktion ist diejenige eines Propagandaministeriums und sie bestimmt, welche Medieninhalte wann und über welche Kanäle an die Öffentlichkeit transportiert werden sollen.
Wir haben es derzeit in der Türkei mit einem Staatssystem zu tun, in welchem Richter ihre Posten verlieren, wenn sie Journalisten, die ohne Beweislast in den Gefängnissen sitzen, aus der Haft entlassen wollen. Die Zahl der inhaftierten Journalisten beläuft sich derzeit auf mehr als 170. So werden beispielsweise die Journalisten der traditionsreichen Zeitung Cumhuriyet damit beschuldigt, gleichzeitig Mitglied von drei unterschiedlichen “Terrororganisationen” zu sein, die absolut nichts miteinander zu tun haben. Und die vermeintlichen Beweise für diese absurden Beschuldigungen sammelt die Staatsanwaltschaft aus den Artikeln, die von den beschuldigten Journalisten verfasst wurden, oder ihren Kurzmitteilungen über Twitter.
Die nicht-mögliche “Nein-Kampagne” in Nordkurdistan
Neben der freien Presse trifft die Wut der Repressionen der Regierungsgewalt derzeit vor allem diejenigen, die beim Referendum mit einem “Nein” stimmen wollen. Besonders in Nordkurdistan wird der “Nein-Kampagne” geradezu keine Luft zum Atmen gegeben. So werden Kundgebungen der HDP zum Referendum willkürlich durch die Gouverneure verboten. Wahlkampffahrzeuge der HDP wurden in großer Anzahl beschlagnahmt. Jegliches Gefährt, auf dem ein HDP-Logo zu sehen ist, wird aus dem Verkehr gezogen und mit hohen Bußgeldern belegt. Selbst geschlossene Räumlichkeiten, die für Wahlkampfveranstaltungen der Nein-Kampagne gesucht werden, lassen sich nicht finden. Denn den Betreibern von Hotels und Hochzeitssälen wird unmissverständlich mitgeteilt, dass sie mit finanziellen Folgen zu rechnen haben, wenn sie ihre Räume der HDP zur Verfügung stellen. Sogar der Wahlkampfsong der HDP “Bejin Na” (“Sagt Nein”) wurde vielerorts durch die Gouverneure verboten. Die Begründung ist einfach – es handelt sich um einen kurdischen Song! Und auch Wahlkampfplakate der HDP wurden niedergerissen und eingesammelt. Auch hier wird die Verwendung der kurdischen Sprache zum Verbotsanlass genommen.
Die möglichen Gefahren am Tag des Referendums
Eine weitere Angelegenheit, die an dieser Stelle zur Sprache gebracht werden muss, ist die Unsicherheit am Tag des Referendums. So zeigt sich bereits bei den Wahlen außerhalb der Türkei, die ja im vollem Gang sind, dass mancherorts die Vertreter der HDP als Mitarbeiter an den Wahlurnen nicht zugelassen werden. Diese Praxis stellt einen Rechtsbruch dar, denn laut türkischem Gesetz haben die Parteien, die bei den letzten Wahlen auf den Plätzen eins bis vier gelandet sind, das Recht, für den Wahlvorgang Mitarbeiter zu stellen. Dieses Recht wird der HDP nun bei der Stimmabgabe im Ausland offensichtlich entzogen. Und es scheint, als ob sich auch am Referendumstag in der Türkei am 16. April ein ähnliches Bild abzeichnen wird. Denn bereits jetzt gibt es Fälle, bei denen HDP-Mitglieder als Wahlurnenleiter abgelehnt werden, obwohl sie einen rechtlichen Anspruch darauf hätten. Begründet werden diese Entscheidungen des Hohen Wahlrats in der Türkei (YSK) mit an den Haaren herbeigezogenen Beschuldigungen gegenüber den betroffenen HDP-Mitgliedern. An ihre Stelle werden dann Mitglieder der AKP gesetzt. Zugleich sind bereits mehrere Personen, deren Namen als Wahlurnenleiter von der HDP an den Hohen Wahlrat vermittelt wurden, kurz darauf von der Polizei festgenommen worden.
Um auch in den Dörfern die gewünschten Ergebnisse beim Referendum zu garantieren, hat die AKP nun nach den Bürgermeistern auch angefangen oppositionelle Dorfvorsteher in Nordkurdistan abzusetzen. An ihre Stellen werden dann entweder Dorfschützer oder AKP-Anhänger gesetzt. In einem Großteil der kurdischen Kommunen, in denen die Demokratische Partei der Regionen (DBP) gewählt wurde, hat man ohnehin regierungstreue Treuhänder eingesetzt. Und gemeinsam mit diesen Verwaltungsstrukturen, die mit Zwang unter die Kontrolle der AKP gestellt wurden, setzt Erdoğan in Nordkurdistan seine “Ja-Kampagne” um. So geschehen zuletzt in Amed (Diyarbakir), wo der türkische Staatspräsident samt Regierungsmitglieder zu einer Ja-Kundgebung aufgerufen hatte.
Während also für Erdoğans Kampagne alle staatlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, lässt die Regierung nichts unversucht, um die Nein-Kampagne der HDP zu sabotieren. So wurden zuletzt in Şirnex (Şırnak) die Abgeordneten der HDP auf dem Weg zu einer Kundgebung stundenlang aufgrund von Polizeisperren aufgehalten. Die Inhaftierung von 13 HDP-Abgeordneten, sowie die tagtäglichen Festnahmewellen gegen HDP-Aktivisten möchte ich an dieser Stelle ebenfalls als Randnotiz erwähnt haben. Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu lächerlich, dass sich die AKP-Vertreter über die vermeintliche Behinderung ihrer Propagandaaktivitäten in Europa empören.
Neben der HDP bekommen auch die übrigen politischen Akteure, die für ein Nein beim Referendum werben, ihr Fett weg. Um zwei Beispiele zu nennen: In der zentralanatolischen Stadt Niğde wurde eine Nein-Veranstaltung von Meral Akşener, einer mittlerweile aus der Partei ausgeschlossenen oppositionellen MHP’lerin, seitens des Gouverneurs abgesagt, weil alle politischen Veranstaltungen in der Stadt auf unbestimmte Zeit verboten seien. Doch kaum hatte Akşener die Stadtgrenzen von Niğde wieder verlassen, hatte sich der Gouverneur wieder umentschieden und sein Verbot zurückgezogen, damit die Ja-Veranstaltungen in der Stadt problemlos stattfinden können. Ähnliches wiederfährt der kemalistischen CHP, wenn sie an den Universitäten zu Wahlkampfveranstaltungen für ein Nein werben möchte. Zahlreiche CHP-Abgeordnete, die entsprechende Veranstaltungen an den Universitäten anmelden wollten, erfuhren Absagen seitens der Universitätsrektoren. Bei den Rektoren wiederum handelt es sich um Personen, die entweder in jüngster Zeit von Erdoğan selbst ihren Posten erhalten haben oder aber um solche, die keinen “Fehler” machen wollen, um ihren Posten nicht zu verlieren.
Wir sehen also, dass sich in der Türkei und Nordkurdistan Vorfälle wie diese häufen. Die Türkei bewegt sich als ein Land, in dem grundlegende Menschenrechte temporär ausgeschaltet sind, auf ein Verfassungsreferendum zu, mit dem nach Wunsch der Regierung diese Rechte auf Dauer ausgeschaltet werden sollen. Unter diesen Bedingungen ist klar, dass das Referendum von vornherein eigentlich keine Legitimität genießt. Trotz dessen werfen die Gegner des Präsidialsystems alles in die Waagschale, um die angestrebte Ein-Mann-Diktatur noch zu stoppen. Denn eins wissen sie genau, wenn ihnen dies nicht gelingt, dann dürften die gegenwärtigen Entwicklungen in der Türkei nur der Anfang gewesen sein.