Faysal Sarıyıldız, BDP-Abgeordneter aus Sirnex, inhaftiert im E-Typ-Gefängnis Mêrdîn
In der Türkei wird zurzeit auf allen Ebenen die Aufhebung der parlamentarischen Immunität der BDP-Block-Abgeordneten und somit das Verbot der BDP debattiert. Grund genug habe die Türkei dafür, aber die letzte Umarmung von BDP-Block-Abgeordneten mit Guerillas in Şemzînan (Şemdinli) bringe jetzt das Fass zum Überlaufen. Die Liquidation der politischen Arbeit der BDP läuft seit Jahren. So will die Gewaltherrschaft der AKP-Regierung die gesellschaftliche Opposition aus dem Weg räumen, um eben ihren autoritären Staat zu »restaurieren«.
In diesem Artikel geben wir dem aus dem Gefängnis heraus zum BDP-Parlamentsabgeordneten für Şirnex (Şırnak) gewählten, aber immer noch im E-Typ-Gefängnis Mêrdîn (Mardin) Inhaftierten die Möglichkeit, uns die Lage verständlich zu machen.
»Ich würde mich davor fürchten, mich vor der Geschichte und dem Volk nicht verantworten zu können. Manch einer mag heute mithilfe der Instrumentalisierung des Parlaments über mich oder meine Freunde richten können. Weil sie meine Ansichten und Gedanken juristisch nicht verurteilen können, können sie auch mein Abführen in Handschellen gutheißen. Doch werden sie nicht meinen Verstand, meine Liebe zur Demokratie sowie meine Leidenschaft für die Menschen verurteilen können. Ich bin überzeugt davon, dass diejenigen, die heute die Aufhebung meiner Immunität fordern, sich nicht vor der Geschichte und dem Volk werden rechtfertigen können. Sie sind es, die sich wirklich fürchten müssen. An dem Tag, an dem sie verurteilt werden, werden wir im öffentlichen Bewusstsein ohnehin freigesprochen.«
18 Jahre sind vergangen, seitdem der inzwischen verstorbene weißbärtige Weise Orhan Doğan am 2. März 1994 zum Tagesordnungspunkt der Immunität seine letzte Rede im türkischen Parlament hielt. Dabei versuchen jetzt die gegenwärtige Regierung und ihre Konsorten mit derselben Methode, die Immunität der aus der gleichen politischen Tradition stammenden Parlamentsabgeordneten der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) aufzuheben. Seitdem die legale politische kurdische Bewegung Anfang der 1990er Jahre die Bühne der Geschichte betrat, haben alle Regierungen versucht, die kurdische Opposition mit Parteiverboten, ungeklärten Morden, Verhaftungen und Festnahmen entweder zu vernichten oder zu domestizieren. Die herrschende Mentalität, die das Gespenst der Aufhebung der Immunität permanent wie ein Damoklesschwert über die kurdischen Abgeordneten schwingt, hat diese antidemokratische Praxis immer wieder mit dem zu einer Art Fetisch gewordenen »nationalen Willen« begründet.
Die Lüge von der Gewaltenteilung
»Nicht wir, sondern das Volk sagt dies. Das Parlament ist nicht mehr erhaben. Weil PKK-Mitglieder im Parlament sind. Das Parlament muss sich zuerst von den PKK-Mitgliedern säubern. Die PKK-Mitglieder beeinträchtigen die Erhabenheit des Parlaments.« Diese Äußerung aus den Reihen der türkischen Streitkräfte erschien in der Presse kurz vor der gewaltsamen Verhaftung der Abgeordneten der Partei der Demokratie (DEP) vor den Toren des Parlaments und auf diese Weise wurde der Putsch vom 2. März vorbereitet.
Die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller und Generalstabschef Doğan Güreş, Dirigenten des nationalen Chors zur Auflösung der legalen kurdischen Bewegung, leiteten den Zerstörungsprozess in den kurdischen Provinzen mit Schlagzeilen ein wie »Demirel: DEP stört Streitkräfte«, »Çillers DEP-Operation«, »Ministerpräsidentin hat der Führung den Befehl erteilt. Immunität der DEP-Abgeordneten wird aufgehoben«. Durch das installierte Kriegskonzept wurden Tausende von Menschen zu Opfern ungeklärter Morde. Die Vertreibung der Menschen aus den ländlichen kurdischen Gebieten führte dazu, dass Millionen ihrer Heimat beraubt wurden und umsiedeln mussten. Im Hinblick auf diese negativen Erfahrungen liegt es ganz klar auf der Hand, dass die Bemühungen der AKP-Regierung zur Aufhebung der Immunität der BDP-Abgeordneten erneut zu großem Unheil führen werden. Die aktuelle Regierung spielt ein gefährliches Spiel, das die Vorgängerregierungen ebenfalls ausprobiert haben. Ministerpräsident Erdoğan, der die Umarmung von BDP-Abgeordneten vom Wahl-»Block der Arbeit, Demokratie und Freiheit« mit Guerillas in Şemzînan (Şemdinli) [s. S. 11 Fußnote Nr. 1] in eine negative Propaganda transformiert und die politische Lynchjustiz angeführt hat, überholt sogar Tansu Çiller. Erdoğans offene Anweisung an die Judikative zur Aufhebung der Immunität hat offenbart, dass das Prinzip der Gewaltenteilung in der Türkei eine große Lüge ist. Der Tenor der vor 18 Jahren veröffentlichten Artikel und Schlagzeilen sowie der Äußerungen der Politiker, die kurdische Abgeordnete zur Zielscheibe erklärten, war derselbe wie heute. Diese Tatsache belegt ohne jedes Wenn und Aber, welche geringe Entfernung auf dem Weg zur Lösung der kurdischen Frage bisher zurückgelegt worden ist.
Mit Verwunderung beobachten wir, wie die AKP sich an den Begriff des »nationalen Willens« klammert, und AKP-Sprecher bekunden, dass sie im Hinblick auf die »Umarmung« Maßnahmen ergreifen werden, um die Erwartungen der Nation zu erfüllen. Es ist von Nutzen, die AKP-Regierung, die von der Priorität des »nationalen Willens« faselt, daran zu erinnern, dass neun Abgeordnete des nationalen Parlaments inhaftiert sind. Der Ansatz der AKP-Regierung, die völlig eigennützig das Phänomen des »nationalen Willens« auf den Markt wirft, ist ein offener Beweis dafür, dass sie die kurdische Volksgruppe nicht innerhalb dieser Definition der Nation verortet. Wenn die Regierungsvertreter dieser Nation so sehr ergeben sind, dann sollten sie sich mal fragen, welcher Kurde für eine Aufhebung der Immunität der BDP-Block-Abgeordneten ist: nämlich keiner!
Raub am Willen des Volkes
Unverkennbar ist die Aufhebung der Immunität der BDP-Block-Abgeordneten ein Unterfangen zur Liquidation von deren politischer Arbeit. Denn angesichts der in »Wandel« verpackten Gewaltherrschaft der AKP-Regierung, welche die Konzeption des autoritären Staates »restauriert«, ist die BDP die einzige echte gesellschaftliche Opposition, die dafür aus dem Weg geräumt werden muss.
Allerdings ist diese Feststellung allein unzureichend. Denn der Startschuss zur Liquidation der kurdischen Bewegung fiel durch die AKP-Regierung bereits am 14. April 2009 mit den KCK-Operationen. Als Folge dieser rechtswidrigen Maßnahmen sitzen 6 Abgeordnete, 32 Bürgermeister, Hunderte von Kreistags- und Stadtratsmitgliedern und Tausende von Führungskräften der BDP auf Provinz- und Kreisebene im Gefängnis. Mit der Festnahme und Inhaftierung von 36 Journalisten und 33 Rechtsanwälten am selben Tag demonstrierte die Türkei eine Praxis, die selbst in Staaten mit den rückständigsten Demokratien nicht vorkommt. Wenn in der Türkei, wo der Wille des Volkes geraubt, die Presse zum Schweigen gebracht, das Recht auf Verteidigung behindert wird und Tausende von Oppositionellen inhaftiert wurden, der Ministerpräsident so weit gehen und voller Dreistigkeit sagen kann: »Ich habe die Judikative beauftragt, sie wird die erforderlichen Schritte einleiten«, dann bedeutet das, dass die Demokratie schon längst unter den Lackschuhen der zivilen Vormundschaft erdrückt wurde.
Jeder muss einsehen, dass in einer Atmosphäre, in der die emotionale Aufspaltung der türkischen und der kurdischen Volksgruppe immer weiter voranschreitet, eine Aufhebung der Immunität der BDP-Abgeordneten bedeuten würde, Benzin ins Feuer zu gießen. Die Intellektuellen, Medien, Künstler, Denker, Akademiker und Politiker in der Türkei legen in diesem kritischen Prozess eine Gewissensprüfung ab. Gegenüber der autoritären Gesinnung, welche die BDP durch Kriminalisierung aus dem Parlament zu stoßen versucht, müssen alle Gesellschaftsschichten für die BDP eintreten. Eine solche Solidarität wird eine wichtige Rolle bei der Schaffung des gesellschaftlichen Friedens spielen und einen bedeutenden Beitrag zum Zusammentreffen der demokratischen Opposition an derselben Front leisten.