Wird die Türkei ihre Vergangenheit aufarbeiten?

hurriyet gazetesiDie Zukunft wird von ihrer Vielfalt geprägt werden
Devris Çimen, Journalist und Mitarbeiter im Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., August 2013

»Türkiye Türklerindir« (Die Türkei gehört den Türken), das ist das Motto der am 1. Mai 1948 gegründeten liberal-konservativen Boulevardzeitung Hürriyet, mit täglich ca. 500 000 verkauften Exemplaren eine der drei auflagenstärksten Zeitungen der Türkei.

Jeder mit einem gesunden Menschenverstand würde dazu sagen: »Aber das ist doch Rassismus.« Dennoch ist diese Parole ein grundlegender Bestandteil des täglichen Lebens. Vor allem in Städten, in denen verschiedene Ethnien leben, und in allen Bildungseinrichtungen steht die Parole geschrieben: »Glücklich ist der, der von sich sagen kann, ich bin ein Türke.« Darauf sind die türkischen Bürger stolz.

»Jeder einzelne Türke kann es mit der ganzen Welt aufnehmen«, »Jeder Türke wird als Soldat geboren«, mit solchen oder ähnlichen Losungen, die ich alle gar nicht aufzählen kann, wurden und werden die Menschen in der Türkei erzogen. Diese erschreckende und rassistische Lehre ist das Erbe Atatürks, der die Eckpfeiler der türkischen Republik setzte. Bei einem Erbe denkt man zunächst an einen positiven übriggebliebenen Reichtum. In der Türkei stellt dieses Erbe keinen Reichtum, sondern vielmehr geistige Armut dar. Angesichts der Assimilierung, Verleugnung, Vertreibung und sogar der Vernichtung der zig verschiedenen Identitäten, Kulturen und Volksgruppen sieht man, wie die Türkei diesen Reichtum verliert und ärmer wird.

Sogar heute noch wiederholt der türkische Ministerpräsident R. T. Erdogan in zahlreichen seiner Reden die Parole »eine Nation, eine Heimat, eine Religion, eine Sprache, eine Flagge«. Durch die Weitergabe der symbolischen Sprache wird allen dieses Erbe als souverän aufgezwungen. Es ist die zwingende Auflage einer antidemokratischen Republik. Diese Sprache ist keine Option, sondern staatlicher Zwang. Diese Äußerungen Erdogans finden ihre Quelle in der Verfassung, deren Präambel u.a. festhält, » (…) dass keinerlei Aktivität gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geschützt wird und heilige religiöse Gefühle, wie es das Prinzip des Laizismus erfordert, auf keine Weise mit den Angelegenheiten und der Politik des Staates werden vermischt werden (…)«.

Wenn die Verfassung eines Landes rassistisch, diskriminierend, monistisch und totalitär ist, dann werden auch alle Regierungen unter dieser Verfassung rassistisch, diskriminierend, monistisch und totalitär sein.

Wir wollen uns erinnern – die türkische Armee (TSK) unternahm zwei Mal, am 27. Mai 1960 und am 12. September 1980, einen Putsch, zwang weiterhin 1971 und 1997 die demokratisch gewählte Regierung zum Rücktritt. Diese Putsche wurden mit Verfassungsverstößen begründet. Die aktuell gültige Verfassung wurde nach dem Militärputsch von 1980 unter der Regie des Militärs geschrieben. Die Verfassung zur Zeit der Republikgründung war unter der Prämisse einer besonderen Betonung des Türkentums neu verfasst worden. Diese Art von Verfassung ist das Schlimmste, was einem multikulturellen Land wie der Türkei passieren kann. Das daraus resultierende Leid müssen nun die Menschen dort ertragen.

Auch wenn es nicht allzu oft zur Sprache kommt, heute im Jahre 2013 unterhält die Türkei Beziehungen und unterschreibt Abkommen mit der EU, den USA und Deutschland im Rahmen dieser totalitären Verfassung. Auch wenn die AKP-Regierung den Staat als »demokratischen Rechtsstaat« bezeichnet, bleibt er in diesem Lichte militarisiert und totalitär. Was also trennt die Türkei von den diktatorischen Regimen des Nahen Ostens und Nordafrikas? Die Türkei erfährt in dieser Hinsicht eine positive Diskriminierung durch ihre westlichen Partnerstaaten. Niemand verhängt wegen dieser Verfassung gegen die Türkei ein Embargo, friert seine Beziehungen ein oder übt ehrliche Kritik …

Aus diesem Grunde erhalten die oben erwähnten Länder ihre Beziehungen und den Handel mit der Türkei auch im Rahmen dieser chaotischen Situation aufrecht. Und genau das liefert der Türkei Energie und Motivation für ihre antidemokratische Praxis.

Diese falsche Motivation und Energie wiederum verleiht Erdogan die Legitimation, der Bevölkerung seine Macht, entgegen demokratischen Forderungen der Gesellschaft, aufzuzwingen.

Der Versuch, das Schlechte, eine Militärputsch-geprägte Verfassung und die darin vorgesehene Verleugnung, die Assimilation und den Monismus, mit Armee, Polizei und Gewalt zu stützen, führt zu gesellschaftlichem Widerstand, wie er bei den Ereignissen um den Taksim und den Gezi-Park zu beobachten ist. Es kommt zur Entstehung von Widerstandsbewegungen wie der PKK. Andersgläubige, wie die Aleviten, werden für ihre Rechte kämpfen. Völker, wie Armenier oder Assyrer, die einen Genozid erleiden mussten, fordern dessen Anerkennung. Wird weiter an den Fehlern festgehalten, kommt es zur Erhebung der Vielfalt Anatoliens und Mesopotamiens, also genau der Regionen, die in einen Völkerfriedhof verwandelt worden waren. Die Forderungen nach mehr Demokratie mehren sich. Die Gesellschaft erwacht und dieses falsche System stürzt ins Chaos …

Dass in der Türkei unter der Regie der Verfassung agiert und der Vielfalt und Gesellschaft etwas aufgezwungen wird, und dass dies dann natürlich nicht funktioniert, lässt sich am Beispiel des Kampfes der Kurden gegen die offizielle Staatsdoktrin und ihre Institutionen sehr konkret ablesen.

Allein die Behauptung, ein Sachverhalt existiere nicht, lässt ihn nicht einfach von allein verschwinden. All die über die Nicht-Existenz der Kurden entwickelten Thesen wurden durch einen Kampf der Kurden unter großen Opfern widerlegt. Die Türkei taumelt mit dem größten Problem in ihrer Geschichte, dem Kurdenproblem, hin und her. Und wir können nun sagen »es gibt Kurden«, ohne dass es verleugnet wird. Wenn wir aber sagen können »es gibt Kurden«, werden wir auch mit einem neuen Problem konfrontiert. Wie wird die Türkei damit umgehen und leben?

Es geht dabei auch nicht nur um die Kurden, sondern ebenso um die türkische Identität und noch die vielen anderen ethnischen Gruppen, die man innerhalb der islamischen Religion einzuschmelzen versucht. Attila Durak, ein Fotograf, Künstler, zeichnete in den Jahren 2000 bis 2007 die kulturelle Vielfalt der Türkei in seinen Menschenportraits und erzählte deren Geschichten. Anhand einer Feldforschung in hunderten Städten, Gemeinden und Dörfern überall in der Türkei, über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg, dokumentierte er 44 ethnische/religiöse Gruppen fotografisch und stellte sie in einer Ausstellung dem Publikum vor. Diese Ausstellung hat in vielen Galerien, auf Festivals und Messen Einblick in den kulturellen Reichtum der Türkei gegeben.

Von diesem schönen Beispiel ausgehend fordern die Kurden von der Türkei keinen neuen Staat, aufgeteilt zwischen Kurden und Türken. Die Kurden heute bemühen sich um eine Veränderung der Türkei und entwickeln Lösungsprojekte, damit nicht nur sie, sondern auch die anderen ethnischen Gruppen zu Reichtum in der politischen und sozialen Landschaft der Türkei werden …

Dies erfordert von der Türkei Aufarbeitung, eine Konfrontation mit ihrer Geschichte, Gesellschaft und deren Vielfalt.

Ein Vorschlag, die Türkei müsse ihre Vergangenheit aufarbeiten, ruft bei Politikern und einem Großteil der Akademiker sofort reflexhafte Gegenreaktionen im Namen des Türkentums hervor, was völliges Unverständnis auslöst. Wenn es jedoch keine Probleme gibt, warum dann diese Reflexe auf die Aufarbeitungsdebatten? Warum gibt es keinen mutigeren, konstruktiveren Diskurs? Wie soll denn anders eine Aufarbeitung oder eine Konfrontation mit der Vergangenheit stattfinden?

Wie sollen die Repressionen bis hin zu den Massakern, die Diskriminierung, die die Armenier, Griechen, Juden, Assyrer, Kurden und Aleviten aufgrund der offiziellen Staatsdoktrin erlitten haben, anders verarbeitet werden können? Viele solche Fragen müssen von der Politik und den akademischen Zirkeln beantwortet werden. Eine demokratische, freiheitliche Zukunft kann nur darauf aufgebaut werden.

Wir können festhalten: Damit die Türkei zu ihrer inneren Ruhe kommen kann, muss sie zunächst das Vertrauen aller Bevölkerungsgruppen innerhalb ihrer Grenzen gewinnen. Um diese falsche Politik überwinden zu können, muss sie sich selbst vertrauen können. Erst danach folgt eine geduldige, demokratische, friedliche, freiheitliche, der Wahrheit ins Gesicht schauende und ihre Vielfältigkeit in Reichtum verwandelnde Türkei …

Dafür muss jedoch sowohl der Staat als auch die Gesellschaft in den genannten Punkten der Wahrheit ins Gesicht sehen und sich gegebenenfalls für begangene Fehler entschuldigen.

Die Türkei muss dazu in der Lage sein, die aus ihrer Genozidpolitik resultierenden Massaker an Armeniern, Assyrern, Aleviten, Kurden und Pontus-Griechen aufzuarbeiten.

Sie muss allen durch ihre Verleugnungs- und Assimilierungspolitik vor dem Aussterben stehenden ethnischen Gruppen ihre Identität wiedergewähren und mit ihnen das Geschehene verarbeiten.

Allein bei den 3,5 bis 4,5 Millionen kurdischen Menschen, die sie in den letzten dreißig Jahren im Rahmen des Krieges aus über 3.500 Dörfern vertrieben hat, muss sie sich entschuldigen und mit ihnen das Geschehene verarbeiten.

Sie muss sich mit den seit 1989 an 353 verschiedenen Orten entdeckten 3.248 Massengräbern befassen, sie öffnen und die Identität der Opfer feststellen. Sie muss sich mit den Angehörigen Tausender durch staatliche Sicherheitskräfte festgenommener und danach verschwundener Menschen arrangieren, die ungeklärten Morde aufklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

Sie muss sich mit hunderttausenden Menschen arrangieren, die im Rahmen des Militärputsches vom 12. September 1980 festgenommen und gefoltert wurden, weil sie vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hatten.

Sie muss sich mit dem Massaker von Dersim (Tunceli) im Jahre 1938 befassen, dem Zehntausende zum Opfer fielen, und sie muss sich bei den kurdischen Aleviten dafür entschuldigen.

Weiterhin muss sie die Massaker in Gurgum (Kahraman­maras), wo hunderte kurdische Aleviten zu Opfern wurden, in Çorum und Sêwas (Sivas), wo zig Aleviten und Linke massakriert wurden, und viele andere aufklären und aufarbeiten.

Um diese Beispiele und noch zig andere ungenannte aufzuklären und aufzuarbeiten, braucht es Mut und Durchhaltevermögen.

»Was ist denn aber mit den Schritten, die die AKP in den letzten zehn Jahren unternommen hat? Man tut ihnen Unrecht«, solche Aussagen werden auch zu hören sein. Es ist richtig, dass die AKP in manchen Bereichen gewisse Schritte unternommen hat; das geschah jedoch in einem revisionistischen Sinne. Wenn also heute die Türkei in einem Lösungs- und Friedensprozess für die Probleme des Ostens steckt, aber im Westen, in den Metropolen, der Ministerpräsident für den Widerstand der Menschen auf dem Taksim, im Gezi-Park Beschimpfungen wie »Plünderer« verwendet, dann spiegelt das die eigene antidemokratische und arrogante Mentalität.

Mit dieser Einstellung ist die Türkei für eine Demokratisierung noch nicht bereit. Wenn man die Leute, die behaupten, die Türkei habe sich verändert und demokratisiert, fragt, was denn nun die grundlegenden Begriffe seien, die die türkische Demokratie auszeichnen, wäre das Erste, was mir, aber auch vielen anderen einfällt, »Angst« und eine darüber aufgebaute »Bevormundung«, die die Forderungen aus der Gesellschaft ignoriert und eingrenzt. Aus diesem Grunde ist es auch schwierig, trotz der Demokratisierungsbemühungen den demokratischen Betrieb in der Türkei ohne die Verwendung der Begriffe »Angst«, »Bevormundung« und »Einschränkung der Initiative« zu definieren.

Die Türkei hat sich in der Regierungszeit der AKP von einem Militärstaat in einen Polizeistaat gewandelt. Demzufolge wird sie natürlich mit Angst regiert, mit Angst ausgebremst und die demokratischen Forderungen werden unterdrückt. Die Feststellung, der Übergang von der kemalistischen CHP in der Vergangenheit zur konservativ-religiösen AKP heute sei der Fortschritt der Demokratie, ist eine falsche und unzureichende These. Trotz allem muss die Türkei demokratisiert werden. Der einzige Weg, um dieses Chaos und die dunkle Vergangenheit loszuwerden, führt über Demokratie, Empathie und Entschlossenheit.

Wie zu Anfang des Artikels am Beispiel von Hürriyet erwähnt, kann damit begonnen werden, derartige rassistische, monistische und faschistoide Ausführungen aus Medien und Alltagssprache zu streichen. Weiter könnte es dann damit gehen, die rassistischen, chauvinistischen, verleugnenden Lehrpläne in den Grund-, Mittel- und Sekundarstufen zu verändern. Die türkeiweit betriebene systematische Kriminalisierungspolitik gegen die Kurden könnte gestoppt werden. Die Repression bei staatlichen Behörden, an Arbeitsstätten und im öffentlich-rechtlichen Raum gegen Aleviten und andere nicht muslimische Minderheiten wegen des Praktizierens der Religion muss beendet werden.

Die ethnischen Gruppen, ob Türken, Kurden, Armenier, Araber, Pomaken, Lasen, Aramäer, Assyrer, Hemschin-Armenier, Aleviten, Georgier, Pontier, Tschetschenen, Bosnier, Albaner, Mazedonier, Juden, Griechen, Nasturier, Chaldäer, Roma, Eziden, und alle aus dem Türkischen stammenden Identitäten wie die Yörüken, Turkmenen, Tahtaci, Tataren, Kirgisen, Karapapaken, Aseri, Usbeken, Kasachen, Muhacir, Gagausen und Zeybek, diese ethnischen und multikulturellen Identitäten sollten nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung betrachtet werden. In diesem Sinne, nachdem sie nun aufgezählt sind, verdient dieses Mosaik die Aussage, dass »die Türkei nicht den Türken, sondern allen dort lebenden ethnischen Gruppen gehört«. Das Wichtigste ist, dass dafür ein Bewusstsein besteht.

Deshalb sollte die Türkei der Wahrheit ins Gesicht blicken, damit die oben erwähnten und von Attila Durak fotografisch dokumentierten ethnischen Identitäten nicht irgendwann verschwinden und in Zukunft nur noch auf nostalgischen Fotos existieren. Die Frage, die die kurdische Freiheitsbewegung in den letzten dreißig Jahren der Türkei auf die Tagesordnung gesetzt hat, lautet: »Wie ist ein Zusammenleben möglich?« Eines ist allen klar – nichts wird mehr so sein wie früher. Aber wie wird es sein? Die Antwort darauf wird die Türkei finden, indem sie ihre ganze Vielfalt in die Diskussion einbindet. Das ist für ein Land wie die Türkei mit ihrer Geschichte zwar nicht einfach, jedoch unumgänglich …

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