Eine Lösung für Syrien oder endloses Chaos?

Die Journalistin Bêrîtan Sarya über die Entwicklungen in Syrien und die Revolution in Rojava als das einzige demokratische Modell für eine gemeinsame Zukunft, 17.04.2019

Vor zehn Jahren begannen im Rahmen des sogenannten »Arabischen Frühlings« in Tunesien, Ägypten und Libyen Aufstände, die zur Absetzung der Machthabenden führten. Auch in Syrien nahmen 2011 Proteste gegen das Regime ihren Anfang, die sich jedoch zu einem brutalen Krieg entwickelten, der bis heute andauert. Trotz dieses seit acht Jahren andauernden Krieges fand kein offizieller Regime-Wechsel statt. Heute ist Syrien in drei Gebiete aufgeteilt: Die verschiedenen Regionen werden von jeweils unterschiedlichen Mächten kontrolliert, die in ihrem Einflussgebiet sehr unterschiedliche Systeme errichtet haben. Als ein Ausweg aus der Krise und der Zerstörung, die heute in Syrien herrschen, kann praktisch nur das Modell der demokratischen Selbstverwaltung angesehen werden, wie es in Nord- und Ostsyrien vorzufinden ist. Klar ist, dass die Art der Lösung in Syrien zwangsläufig Auswirkungen auf den gesamten Mittleren Osten und die Welt haben wird.

Unterstützung für die destruktivsten Kräfte

Weite Teile Syriens sind heute zerstört. Grund dafür ist der seit acht Jahren andauernde Konflikt zwischen dem syrischen Regime und seinen Unterstützern auf der einen Seite und den regimefeindlichen Gruppen inklusive der regionalen und internationalen Mächte, die sie unterstützen, auf der anderen Seite. Von Anfang an ging es der sogenannten »Opposition« (passender wäre wohl »sunnitischer Block«), die von der Türkei, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar, den USA und der EU unterstützt wird, um den Sturz des Assad-Regimes. Zu keinem Zeitpunkt während der vergangenen acht Jahre unterbreiteten die Regimegegner jedoch eine Alternative zum Einparteiensystem des Baath-Regimes, um eine plurale und freiheitliche Verfassung vorzuschlagen. Sie entwickelten kein Modell, das die Demokratisierung und das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Völker Syriens gewährleisten könnte.

Da die Regime in Ländern wie der Türkei, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Saudi-Arabien selbst nicht demokratisch und pluralistisch waren, konnte man ein derartiges demokratisches Projekt auch nicht von der sogenannten »Opposition« erwarten, die von all diesen Staaten maßgeblich gestützt wurde. Statt auf demokratisch-pluralistische Kräfte als Alternative zum syrischen Regime setzte man auf islamistisch-dschihadistische Gruppen, die in offener Feindschaft zur schiitischen Machtbasis des syrischen Regimes agierten.

Die Geburt des Islamischen Staates (IS) und al-Nusras

Die sunnitischen Dschihadisten rekrutierten sich zum einen aus der Region selbst. Die Muslimbruderschaft, wahabitische und salafistische Gruppen, aber auch die aus desertierten Soldaten gegründete »Freie Syrische Armee« (FSA) lieferten die notwendigen Rekruten. Hinzu kamen tschetschenische, afghanische und uigurische Dschihadisten, die sich den Dschihadisten in Syrien anschlossen. Zu Beginn des Krieges wurde die FSA in den internationalen Medien in den Vordergrund gestellt. Wenig später entwickelte sie sich zu einer Art Dachorganisation für die unterschiedlichsten Gruppen, die zum Teil konträre Vorstellungen von der Zeit nach dem Sturz des Regimes hatten. Einige von ihnen wurden durch die USA und die EU-Staaten direkt unterstützt, u. a. mit Waffen. Länder wie die Türkei, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate verstärkten stetig ihre diplomatische, finanzielle und militärische Hilfe für diese Gruppen. Obwohl die Staaten sehr unterschiedliche Ziele in Syrien verfolgten, konnten sie sich alle auf einen Punkt einigen: die schnellstmögliche Entmachtung des syrischen Regimes.

Die sogenannte »Opposition« kämpfte zwar gegen die syrische Armee, doch zugleich kam es immer wieder zu Kämpfen untereinander. Die Intensivierung dieser Kämpfe führte dazu, dass die radikalsten Gruppen unter ihnen immer mehr an Macht gewannen. Wer am mächtigsten war, erhielt wiederum die meiste Unterstützung der verschiedenen Staaten und konnte sich dadurch organisatorisch stärken. Einige Gruppen schlossen sich zusammen, um sich zu halten, andere zerfielen in mehrere neue Gruppen. Aus diesem Prozess gingen der IS und die an al-Qaida angebundene Gruppe al-Nusra hervor. All die Dschihadisten, die sich ihnen von außerhalb anschließen wollten, konnten praktisch ungehindert über die Türkei nach Syrien gelangen.

Als sich der Charakter der bewaffneten Gruppen in Syrien änderte, begannen auch die sie unterstützenden Staaten ihre Strategien anzupassen. So wurde Rojava zum Angriffsziel der zunächst in ihrem Kampf gegen das Regime unterstützten Gruppen – die einzige demokratisch-pluralistische Alternative zum Assad-Regime. Kurz darauf begannen die radikal-islamistischen Gruppen die Welt mit Bildern all der Grausamkeiten zu versorgen, die sie an Kurden, Aleviten, vermeintlich regimetreuen Zivilisten und verfeindeten Gruppen begingen. Sie köpften Menschen, verbrannten sie bei lebendigem Leibe oder ertränkten sie vor laufender Kamera. Zum Preis weitreichender Zerstörungen sicherten sie sich die Kontrolle über weite Teile Syriens. Zahlreiche historische Städte fielen dieser Zerstörungswut zum Opfer.

Konfusion im Bündnis von USA, Türkei, EU und Golfstaaten nach erfolgreicher Verteidigung Kobanês

Ab 2012 griffen islamistische Gruppen wie die FSA, al-Nusra und der IS immer wieder Rojava an, doch blieben ihre Angriffe erfolglos. Dies führte auf Seiten der sie unterstützenden Staaten zu Spannungen untereinander. Insbesondere der Widerstand in Kobanê und der weltweite Beistand beeinflussten ihre Haltung. Trotz aller Einwände der Türkei und Erdoğans entschlossen sich die USA, diejenigen Kräfte in ihrem Kampf gegen den IS zu unterstützen, die Kobanê verteidigt hatten.

Dessen erfolgreiche Verteidigung und die darauffolgende Offensive der YPG (Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) in den Regionen Til Hemis, Hol und Girê Spî zeigten den Menschen und Staaten weltweit, dass der IS nicht unbesiegbar war. Am 15. August 2015 riefen daraufhin 15 Länder die Internationale Anti-IS-Koalition ins Leben. Trotz der umfangreichen personellen und materiellen Unterstützung der Türkei für den IS in den Jahren zuvor stellte das Land seinen Flughafen in Incirlik für den Kampf gegen eben diese Organisation zur Verfügung und beteiligte sich an der Koalition. Die Rolle als wichtigste Unterstützerin des IS gab sie trotzdem nicht auf. So heißt es in einem Protokoll des türkischen Parlaments vom 5. Mai 2016 zum Handel zwischen türkischem Staatsgebiet und IS-kontrolliertem Gebiet: »Zahlen des türkischen Statistikamtes zufolge hat der zwischen Juli 2013 [Zeitpunkt der Übernahme durch den IS] und Dezember 2014 über den Grenzübergang Karkamış bei Cerablus ­(Dscharabulus) abgewickelte Handel ein Volumen von 4.067.000 US-Dollar. Im Zeitraum von Januar 2014 [Übernahme durch den IS] bis Juni 2015 [Eroberung durch YPG] belief sich das Handelsvolumen am Grenzübergang Akçakale bei Tel Abyad auf 6.481.000 Dollar. Seitdem die PYD (Partei der Demokratischen Einheit) Tel Abyad kontrolliert, ist der Handel über diesen Grenzübergang komplett zum Erliegen gekommen.«

Maßgebliche Akteure vor Ort

Die Entwicklungen nach der Befreiung Kobanês Ende Januar 2015 wiesen bereits frühzeitig darauf hin, dass sich der Stellvertreterkrieg verändern würde, den Länder wie die Türkei mithilfe der FSA, des IS und al-Nusras führten. Die in Rojava mit Unterstützung der Bevölkerung erkämpften militärischen Erfolge hatten direkte Auswirkungen auf das Kräftegleichgewicht in Syrien. Auch das syrische Regime, das Städte wie Aleppo z. T. gänzlich an die dschihadistischen Gruppen verloren hatte und selbst in der Hauptstadt Damaskus nicht gegen sie ankam, schöpfte neuen Mut. Es war mit ganzer Kraft und umfangreicher politisch-militärischer Unterstützung durch den Iran und Russland in den Krieg verwickelt, um wenigstens den Verlust weiterer Gebiete zu verhindern. Der Iran versprach sich von seiner Hilfe die Ausweitung seiner Hegemonie in der Region im Rahmen des schiitischen Halbmondes. Insbesondere die russische Luftunterstützung erlaubte es dem Regime, seinen Einfluss im Nord- und Südwesten des Landes mit der Zeit wieder auszubauen.

Während das Regime also langsam an Stärke gewann, schoss die türkische Luftwaffe am 24. November 2015 ein russisches Kampfflugzeug ab. Dahinter verbarg sich die Absicht, einen Konflikt zwischen der NATO und Russland zu provozieren und zugleich die mit der Türkei verbundenen islamistischen Gruppen zu unterstützen. Russland reagierte, indem es von der Türkei protegierte Dschihadisten entlang der türkisch-syrischen Grenze (Regionen Azaz und Hatay) bombardierte und öffentlichkeitswirksam die Hilfe der Erdoğan-Regierung für den IS darlegte. Dadurch wurden u. a. die Erdölgeschäfte zwischen der Türkei und dem IS bekannt. Auf dem internationalen diplomatischen Parkett geriet die Türkei damit stark in Bedrängnis.

Ende Juni 2016 entschuldigte sich Erdoğan offiziell bei Putin für den Abschuss des russischen Kampfjets und wurde daraufhin zu einem Staatsbesuch in Russland empfangen. Die russische Seite versprach sich von der erneuten Annäherung der beiden Länder, die eng mit der Türkei verbundenen dschihadistischen Gruppen aus den Regionen Aleppo und Latakia vertreiben zu können. Der Türkei ging es darum, eine Verbindung zwischen den nordsyrischen Kantonen Efrîn und Kobanê zu verhindern, die sich YPG und YPJ zum Ziel gesetzt hatten. Dafür war eine türkische Intervention in der Region Cerablus und Azaz notwendig. Russland gab letztendlich grünes Licht dafür, sie begann im August 2016. Im Dezember desselben Jahres sorgte die Türkei dafür, dass die mit ihr verbündeten islamistischen Gruppen aus der Stadt Aleppo nach Idlib abzogen.

Die daraus hervorgegangene Situation führte zu einer Stärkung des syrisch-russisch-iranischen Bündnisses. Doch auch dem türkischen Staat mit seinem faschistischen osmanischen Großmachtstreben war es gelungen, in Syrien Fuß zu fassen. Dies ebnete den Weg für neue Konflikte und Katastrophen in Syrien. Diese Entwicklungen folgten auf die erfolgreiche Eroberung der nordsyrischen Stadt Minbic (Manbidsch) durch die QSD (Demokratische Kräfte Syriens) im Sommer 2016, die auf Initiative der demokratischen Kräfte Rojavas und Nordsyriens gegründet worden waren. Die Eroberung war mit Unterstützung der Internationalen Anti-IS-Koalition erfolgt. Dieselbe Koalition gab kurz darauf dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien grünes Licht. Im Rahmen der türkischen Besetzungsoperation in der nordsyrischen Region Şehba kämpfte die Türkei nicht wie verlautbart gegen den IS, sondern bombardierte vorrangig kurdische Dörfer in der Region. Dutzende Zivilisten fielen diesen Angriffen zum Opfer.

Einheit der Staaten gegen die demokratischen Kräfte

Die Reaktionen auf die türkische Besetzung der nordsyrischen Region Şehba verdeutlichten, dass die Positionen der verschiedenen in Syrien aktiven Staaten nicht unvereinbar miteinander waren: Russland gab seine Zustimmung, das syrische Regime und der Iran schwiegen, während die Staaten der Internationalen Anti-IS-Koalition aktive Unterstützung leisteten. Um das Vorrücken der demokratischen Kräfte in der Region zu verhindern und deren Initiativen zu unterbinden, waren alle Staaten bereit, sich mit der Türkei über ein gemeinsames Vorgehen zu verständigen.

Im Sommer 2017 eroberten die QSD unter maßgeblicher Beteiligung von YPG und YPJ die IS-Hauptstadt Raqqa und drängte ihn auch in anderen Gebieten zurück. Zeitgleich nahmen die Angriffe der Türkei entlang der syrisch-türkischen Grenze zu. Die Türkei geriet zwar zunehmend in Widerspruch zu ihren traditionellen Verbündeten USA und EU, vermied aber einen vollständigen Bruch. Ihre Beziehungen mit Russland und dem Iran wurden zugleich vertieft. Dem Land ging es dabei ganz grundsätzlich um Spielräume für die Umsetzung seiner kurdenfeindlichen Politik. Vertreter des türkischen Staates und mit ihm verbündete dschihadistische Gruppen nahmen auf Seiten der »Opposition« sowohl an den Genf-Verhandlungen als auch am Astana-Prozess teil. Dieser ging auf eine russische Initiative zurück, um gemeinsam mit dem Iran und der Türkei eine Alternative zu den Gesprächen in Genf zu schaffen. Die drei Länder der Astana-Verhandlungen erklärten sich selbst zu Garantiemächten in Syrien. Ein Ergebnis der Verhandlungen war der koordinierte Abzug der dschihadistischen Gruppen aus den verschiedensten Teilen Syriens und ihre Unterbringung in der nordwestsyrischen Provinz Idlib. In vom syrischen Regime bereitgestellten Bussen wurden die Dschihadisten aus den verschiedenen umkämpften Gebieten des Landes abtransportiert. Zuletzt kam es zu einer Art Geschäft: Das syrische Regime erhielt die Kontrolle über Ost-Ghouta (Damaskus) im Tausch gegen die Genehmigung für einen türkischen Einmarsch in Efrîn. Russland gab in diesem Zusammenhang grünes Licht für die türkische Invasion in Nordsyrien, obwohl es bis dahin mit den YPG verbündet gewesen war und an einige Orten in der Region militärische Beobachtungsposten unterhielt. Es beabsichtigte damit, die Kontrolle des syrischen Regimes im eigenen Land auszuweiten. Russland schloss mit der Türkei zeitgleich Abkommen über den Bau einer Gaspipeline durch das Schwarze Meer, den Bau eines Atomkraftwerks in der Türkei und den Verkauf des Luftabwehrsystems S-400, was zu Spannungen zwischen der Türkei und ihren NATO-Partnern führte.

Die USA und die EU-Staaten bewerteten die türkische Invasion in Efrîn nicht als Besatzung, sondern sprachen von nachvollziehbaren »Sicherheitsbedenken der Türkei« und warnten, die Operation dürfe »dem gemeinsamen Kampf gegen den IS nicht schaden«. Das war eine indirekte Bestärkung für die türkische Militäroperation. Die Türkei ging sogar so weit, einen UN-Beschluss über eine Waffenruhe zu ignorieren und die Angriffe auf Efrîn unvermindert fortzusetzen.

Während der 58 Tage dauernden Angriffe setzte sie Kampfflugzeuge, Helikopter, Panzer und Raketensysteme ein, die ihr zuvor von NATO-Ländern verkauft worden waren. Laut Aussagen des türkischen Generalstabs wurden allein am ersten Tag der Operation mithilfe von 72 Kampfflugzeugen 108 Ziele angegriffen. Selbst Angriffe in zwischenstaatlichen Kriegen haben nur selten diese Intensität. Hundert Zivilisten fielen der türkischen Invasion zum Opfer, Krankenhäuser, jahrtausendealte Kultstätten, Schulen und Wohnhäuser wurden bombardiert. Selbst Menschen, die sich aus Aleppo und den Gebieten östlich des Euphrats auf den Weg nach Efrîn gemacht hatten, um ihre Solidarität zu bekunden, wurden von den Kampflugzeugen angegriffen. Nach der Entscheidung der Selbstverwaltung Efrîns, alle Menschen aus der gleichnamigen Stadt zu evakuieren, besetzte die Türkei den nordsyrischen Kanton vollständig. Seither setzen YPG und YPJ ihren Widerstand in Form regelmäßiger Guerilla-Aktionen fort. Auch nach der Besetzung ist der Wille der Türkei ungebrochen, sich weiterer Teile Nordsyriens zu bemächtigen. Entsprechende Drohungen Erdoğans und anderer türkischer Vertreter erfolgen regelmäßig.

Während die demokratischen Kräfte Nordsyriens den IS aus der nordöstlichen Region Deir ez-Zor vertreiben und weiter auf die Befreiung Efrîns hinarbeiten, versucht die Türkei ihre Besetzungspläne für die Stadt Minbic und die Gebiete östlich des Euphrats in die Praxis umzusetzen. Als Reaktion auf die Ankündigung des US-Präsidenten, ihre Truppen aus Nord­syrien abzuziehen, begann eine Debatte über die Einrichtung einer sogenannten »Sicherheitszone« dort. Dabei ist noch immer nicht klar, ob, wann und wie genau die US-Truppen vollständig aus der Region abgezogen werden. Die Türkei versucht diese Situation dafür zu nutzen, die Unterstützung Russlands und der USA für einen Einmarsch in Nordsyrien zu gewinnen.

Die Ziele der unterschiedlichen Akteure in Syrien

An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die Pläne der verschiedenen Akteure in Syrien. Trotz der seit fünf Jahren andauernden Präsenz der USA und ihrer Verbündeten der Anti-IS-Koalition haben diese Länder bisher keine alternativen Lösungsideen vorgelegt. Es ist noch immer nicht klar, was für ein Syrien sie sich wünschen. Ihre ursprüngliche Losung ­»Assad muss gehen und ein neues syrisches Regime an die Macht kommen« konnten sie nicht in die Praxis umsetzen, weshalb sie in jüngster Vergangenheit weitgehend darauf verzichteten, dies öffentlich einzufordern. In Verbindung mit der Ankündigung zahlreicher arabischer Staaten, ihre Botschaften in Damaskus wiederzueröffnen, und der Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga zeigt sich ein Strategiewechsel der USA und ihrer Verbündeten in Syrien.

Der Rückzug wurde aufgrund zahlreicher Reaktionen vorläufig gestoppt. Doch der Wunsch der USA, der Türkei eine Rolle im Kampf gegen den an Einfluss eingebüßten IS in Syrien zuzusprechen, ist ein Zeichen dafür, dass sie die gegenwärtige Situation nicht akzeptieren. Zugleich versuchen sie, der Selbstverwaltung in Rojava und Nordsyrien mit einem türkischen Einmarsch zu drohen, um sie von ihrer eigenständigen politischen Linie abzubringen bzw. sie in Konflikte zu verwickeln, die zwangsläufig zu ihrer Schwächung führen würden. Ziel ist die Eindämmung der Kräfte in Rojava und Nordsyrien.

Nationalstaatliche Lösung als Sackgasse

Russland scheint im Rahmen der Astana-Verhandlungen darauf zu setzen, eine politische Reform Syriens zu verhindern und stattdessen auf das nationalstaatliche Modell zu pochen. Ein entscheidender Grund für den Beginn der Aufstände in Syrien war das Einparteiensystem des Landes, das von arabischem Nationalismus, einer antidemokratischen Haltung und massiver Korruption geprägt war. Die Wiederrichtung dieses Systems zu fordern würde bedeuten, eine Lösung der syrischen Probleme zu verhindern und das Chaos im Land weiter zu vertiefen.

Der syrische Staat verhält sich derzeit so, als seien im Verlauf des achtjährigen Krieges nicht Millionen Syrer aus ihrem Land vertrieben und fast eine halbe Million Menschen getötet worden, als liege die Hälfte des Landes heute nicht in Trümmern und als lebe ein Großteil der Bevölkerung heute nicht in bitterer Armut. Keiner der syrischen Staatsvertreter scheint bereit zu sein, die eigene Rolle in dem Konflikt kritisch zu betrachten und sich auf die Suche nach einer wirklichen Lösung zu machen. Im Verlauf der letzten drei Jahre gelang es dem syrischen Regime, weite Teile des Landes zurückzuerobern. Bei den entsprechenden Militäroperationen wurde nur selten zwischen militärischen und zivilen Zielen unterschieden. Aufgrund des antidemokratischen Charakters und des massiven Drucks des Regimes flohen Menschen aus den zurückeroberten Gebieten nach Nordsyrien, das unter dem Schutz der QSD steht. In den Regimegebieten lebt der Großteil der Bevölkerung heute in bitterer Armut. Abgesehen von Latakia und Damaskus, die von der sogenannten »Opposition« nicht hatten erobert werden können, wurden weite Teile der heute wieder unter Regimekontrolle stehenden Gebiete zerstört. Dort haben die Frauen immer noch keine Rechte, außer zur Schule gehen zu dürfen oder Beamtin, Lehrerin etc. zu werden.

Türkische Präsenz in Syrien als Hilfe für den IS

Sollte Russland der Türkei im Tausch gegen Idlib erlauben, Gebiete wie Minbic oder Girê Spî zu besetzen, würde dies eine große Last für Syrien bedeuten und die türkischen Ansprüche auf die nordsyrische Stadt Aleppo wiederbeleben. Syrien würde dadurch weiter gespalten. Der türkische Staat träumt seit seiner Gründung im Jahr 1923 von der Ausweitung seines Staatsgebiets. Erdoğan lässt diesen Traum in Syrien praktisch werden, wenn er von »elf Millionen Quadratkilometern, die uns zustehen«, spricht. Eine dauerhafte Präsenz der Türkei und eine etwaige Ausweitung des türkischen Einflussgebiets hätten nicht nur Folgen für Syrien, sondern für den Mittleren Osten, Europa und andere Teile der Welt. Der türkische Staat und Erdoğan als Repräsentant des neuen türkischen Systems werden von ihren Expansionsträumen angetrieben. Sie scheuen daher nicht davor zurück, dschihadistische Gruppen und die Millionen Geflüchteten in der Türkei als Druckmittel gegen den Westen einzusetzen.

Die ganze Welt erkennt heute an, dass die Türkei die wichtigste finanzielle Unterstützerin des IS ist. Während dessen nahende Zerschlagung in aller Munde ist, wird außer Acht gelassen, dass sich derzeit Gruppen mit derselben Mentalität wie der IS in den von der Türkei kontrollierten nordsyrischen Gebieten al-Bab, Mare, Exterin und Azaz aufhalten. Die QSD haben den Staaten der Internationalen Anti-IS-Koalition und Russland wiederholt Dokumente zur Verfügung gestellt, die beweisen, dass sich unter dem Dach der sogenannten FSA oder der »Nationalen Armee«, die eng an die Türkei gebunden sind, Gruppen wie der IS und al-Nusra organisieren. In allen nordsyrischen Gebieten, die von der Türkei besetzt gehalten werden, wurde die kurdische Sprache verboten und ein Verwaltungsapparat aufgebaut, der ihr direkt untersteht. Zeitgleich wird mithilfe vorgeblicher ziviler Räte und eigenständiger Polizeikräfte der Eindruck zu vermitteln versucht, die Bevölkerung verwalte sich in den türkischen Einflussgebieten selbst. Praktisch täglich gibt es Meldungen über Gefechte zwischen den vor Ort von der Türkei unterstützten islamistischen Gruppen und über Plünderungen, für die diese Gruppen verantwortlich gemacht werden. Laut Recherchen von Menschenrechtsorganisationen wurden seit dem 20. Januar 2018 in Efrîn 270 Zivilisten getötet und ca. 4.500 entführt. Fünf Gefängnisse wurden seither errichtet, zusätzlich 40 Schulen und 260 Wohnhäuser zu provisorischen Gefängnissen umfunktioniert. Landwirtschaftliche Produkte aus Efrîn, z. B. Oliven, werden vom türkischen Staat beschlagnahmt und u. a. über Spanien auf dem internationalen Markt zum Verkauf anzubieten versucht. Für Frauen stellen die türkisch besetzten Gebiete in gewisser Weise offene Foltergefängnisse dar. Laut örtlichen Quellen ist es Frauen in Şehba und Efrîn verboten, sich allein in der Öffentlichkeit zu bewegen. Viele Frauen ziehen es aufgrund der prekären Sicherheitslage vor, das Haus möglichst gar nicht zu verlassen. Genau wie unter dem IS werden sie gezwungen, sich an die Scharia-Gesetzgebung zu halten und Vollverschleierung zu tragen. Zugleich sind der türkische Staat und seine verbündeten dschihadistischen Gruppen tatkräftig am Geschäft mit der Entführung, Vergewaltigung und Prostitution von Frauen beteiligt.

Was wollen die Kurden und die anderen Bevölkerungsgruppen?

Die Revolution in Rojava dauert seit nunmehr acht Jahren an. Trotz der seither geführten Angriffe des türkischen Staates und der mit ihm verbündeten Dschihadisten ist die Selbstverwaltungsregion in Nordsyrien heute das stabilste Gebiet des Landes und stellt das einzige demokratische Modell vor Ort dar. Diese Entwicklungen können nicht unabhängig von den Anstrengungen Abdullah Öcalans, der PKK, der Frauen und der kurdischen und anderen Bevölkerungsgruppen betrachtet werden, die in den Jahrzehnten zuvor erfolgten. Im Zuge des jahrzehntelangen Einsatzes der kurdischen Freiheitsbewegung ist die Grundlage für das heutige Bewusstsein über die Notwendigkeit der Frauenbefreiung und des Aufbaus der demokratischen Nation geschaffen worden.

Die Kräfte hinter der Revolution in Rojava verfolgen seit 2011 eine eigene politische Linie, die sie ausdrücklich als Alternative zum syrischen Regime auf der einen Seite und der sogenannten »Opposition« auf der anderen Seite verstehen. Mittlerweile wird diese Alternative nicht mehr nur von Kurden, sondern auch den anderen Völkern der Region als Hoffnungsschimmer gesehen. Dazu gehören Araber, Assyrer, Armenier oder Tscherkessen. Bereits kurz nach Beginn der Revolution gingen auch die arabische und die christliche Bevölkerung daran, das Selbstverwaltungsmodell zu unterstützen. Es bildet mittlerweile eine Art politisches Dach, unter dem sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen versammeln. Auch in den vom IS befreiten Gebieten, die mehrheitlich arabisch besiedelt sind, wird das Modell der demokratischen Selbstverwaltung heute angenommen und erfolgreich umgesetzt.

Für Frauen hat die Rojava-Revolution bedeutende Veränderungen mit sich gebracht. Sie werden heute an allen Bereichen des politischen Lebens gleichberechtigt beteiligt. In Form eigener Räte, zivilgesellschaftlicher Institutionen, Stiftungen und bewaffneter Kräfte führen sie einen organisierten Kampf gegen männliche Vorherrschaft, Sexismus, Staatsdenken und fehlende Gleichberechtigung. Für arabische und assyrische Frauen bedeutet die Selbstorganisierung, dass sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte über eigene militärische Strukturen verfügen. Die autonome Organisierung der Frau hat sich mittlerweile zu einer der größten Besonderheiten der Revolution entwickelt. Interessant ist, dass weder die USA und die EU noch die von ihnen unterstützten Kräfte eigene Projekte für ein freies Leben der Frau vorgelegt haben.

Auch die Zusammenarbeit unterschiedlichster Kräfte wie der YPG und assyrischer und arabischer bewaffneter Strukturen unter dem Dach der QSD ist ein Novum in der Region. Trotz all der Probleme, die der andauernde Krieg und altbewährte Mentalitäten wie Nationalismus, religiöser Fanatismus und Sexismus mit sich bringen, arbeiten die verschiedenen Bevölkerungsgruppen heute an einer gemeinsamen Zukunft. Dadurch ist in den vergangenen Jahren das einzige demokratische Modell im Mittleren Osten entstanden. Es wird weltweit wahrgenommen. Hunderte Menschen aus allen Teilen der Welt beteiligten sich am Aufbau der zivilen Strukturen und dem militärischen Widerstand. Dutzende von ihnen bezahlten dafür mit ihrem Leben. Sie alle sind eine Erinnerung daran, dass die Menschen in Nordsyrien nicht allein sind.

Doch auch die Angriffe und schmutzigen Deals auf dem Rücken der Kurden dauern an. Der türkische Staat wird derzeit zum wiederholten Male als Drohung gegen die Kurden und die anderen Volksgruppen Nordsyriens eingesetzt, also gegen diejenigen Kräfte, die den IS weitgehend besiegt haben. Die USA versuchen mit ihrer Hilfe, die nordsyrischen Kräfte der Politik der PDK (Demokratischen Partei Kurdistans) anzunähern, die für ein nationalistisches und kapitalistisches Modell steht, das sich den internationalen Großmächten als regionaler Gendarm anbiedert. Russland seinerseits will Nordsyrien in den syrischen Nationalstaat integrieren.

Während die Kräfte in Rojava und Nordsyrien weiterhin für die Einheit Syriens und die Demokratisierung des Landes eintreten, zeigen sie sich stets bereit für Gespräche mit unterschiedlichen Akteuren aus anderen Teilen der Welt mit dem Ziel einer Beendigung des Krieges, der Anerkennung der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien und der Verhinderung eines türkischen Einmarsches. Zeitgleich halten umfassende Vorbereitungen für eine ggf. notwendige militärische Verteidigung Nord- und Ostsyriens gegen die Türkei, aber auch gegen das syrische Regime an. Einer Bitte zufolge, mit der sich Vertreter Nord- und Ostsyriens immer wieder an die Bevölkerung anderer Länder wenden, sollen diese unter Druck gesetzt und damit zur Anerkennung der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien bewegt werden.

Im Original erschien der Artikel im Kurdistan Report – März/April 2019.