Informationsdossier zu den Morden an 3 kurdischen Politikerinnen in Paris

Herausgegeben von CENÎ, Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
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Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Am 9. Januar 2013 wurden die drei kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez im kurdischen Informationszentrum in Paris kaltblütig ermordet. Sakine Cansız war Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und eine führende Persönlichkeit der kurdischen Frauenbewegung. Fidan Doğan war Vertreterin des Kurdistan-Nationalkongresses (KNK) in Paris. Die 25-jährige Leyla Şaylemez war eine Aktivistin der kurdischen Jugendbewegung in Europa.

Die Art und Weise des Tatverlaufs; Ort und Zeitpunkt sowie das bedeutende politische Engagement der ermordeten Frauen deuten darauf hin, dass es sich bei dieser Tat um politische Morde handelt, die durch professionelle Mörder verübt wurden. Am Samstag, dem 12. Januar 2013 versammelten sich über 100.000 Kurdinnen und Kurden aus ganz Europa in Paris, um gegen die Morde an den drei kurdischen Politikerinnen zu protestieren.

Auch französische Frauenorganisationen, demokratische Parteien, progressive türkische, armenische, tamilische, baskische u.v.a. Organisationen und Bewegungen waren auf der Demonstration und bei der Trauerzeremonie vertreten. Zeitgleich kam es auch in allen vier Teilen Kurdistans, in der Türkei und zahlreichen europäischen Städten zu großen Protesten.
Gleich mit dem Bekanntwerden der Morde, noch bevor von der französischen Polizei oder einer anderen französischen Stelle irgendeine Stellungnahme veröffentlicht worden war, erklärte ein Sprecher der türkischen AKP-Regierung, dass es sich bei der Tat wohl um eine innerparteiliche Abrechnung der PKK handele. Kurz darauf wurde diese unbelegte Behauptung auch durch den türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan sowie durch türkische und europäische Medien auf manipulierende Weise weiterverbreitet, obwohl kurdische Einrichtungen diese Lüge unmissverständlich dementierten.

Uns stellt sich jedoch die Frage, weshalb die türkische Regierung es so eilig hatte, solch eine absurde Erklärung für den Mord zu erfinden? Zeigen die türkischen Verantwortlichen etwa voreilig mit dem Finger auf andere, um von der eigenen Rolle abzulenken?

In einer weiteren Erklärung gab Erdoğan zu, dass der türkische Geheimdienst Sakine Cansız seit einigen Monaten in Frankreich beobachtete und die entsprechenden Informationen an die französischen Behörden weitergegeben habe. Der stellvertretende AKP-Vorsitzende Mehmet Ali Şahin drohte hingegen auf einer Parteiveranstaltung in Karabük, dass ähnliche Vorfälle in Zukunft auch in Deutschland passieren könnten. Şahin sagte: „Wir machen die Länder der EU, Frankreich und Deutschland immer wieder darauf aufmerksam. Ihr begeht einen Fehler, indem Ihr die Terrororganisation PKK und ihre Mitglieder schützt. Wir sagten, dass diese
Organisation für Euch zur Plage werden wird, und das ist sie nun. Wir sagten: ’Ihr nährt eine Schlange an Eurem Busen’, aber sie haben das nicht ernst genommen. Es wurden Auslieferungsanträge gestellt. Keinem wurde geantwortet, niemand wurde ausgeliefert. Aber jetzt befürchte ich, dass sich in den folgenden Tagen auch in Deutschland ähnliche Vorfälle ereignen können.“ (vgl. türkische Tageszeitung Radikal vom 21.01.2013)

Auch wenn es begrüßenswert ist, dass nach über anderthalb Jahren totaler Isolationshaft Anfang diesen Jahres wieder eine Delegation des türkischen Staates mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imralı den Dialog gesucht hat, so kann derzeit von einem Friedensprozess nicht die Rede sein. Denn während die türkische Regierung von einer Lösung der kurdischen Frage spricht, heizen Politiker und Medien, die der Regierungspartei AKP bzw. der Sekte von Fethullah Gülen nahestehen, durch gezielte Falschinformationen und Verleumdungen eine weitere Hetzkampagne gegen die kurdische Bewegung an. Zugleich weitet das türkische Militär seine Operationen und Angriffe gegen die kurdischen Volksverteidigungskräfte in Nordkurdistan auf und bombardiert erneut völkerrechtswidrig die Kandil-Berge in Südkurdistan/Nordirak.

In der Sprache des türkischen Regierungssprechers Besir Atalay wird dies eine „integrative Strategie“ genannt. D.h. während einerseits Gespräche auf Imralı geführt werden sollen, werden andererseits Festnahmen kurdischer AktivistInnen, grenzüberschreitende Militär- und Geheimdienstoperationen weiter intensiviert. Dieses Angriffs- und Vernichtungskonzept richtet sich gegen den Prozess des Übergangs zu einer demokratischen, autonomen Selbstverwaltung, der in Nordkurdistan (Türkei) und Westkurdistan (Syrien) begonnen hat.

Durch die langjährige Arbeit der kurdischen Freiheitsbewegung ist die kurdische Gesellschaft zu einer unabhängigen, organisierten und politischen Kraft und damit zu einem wichtigen politischen Akteur im Mittleren Osten geworden. Auch für andere Völker im Mittleren Osten stellt dieses Modell der demokratischen Selbstverwaltung eine Inspirationsquelle dar. Da dieses Gesellschaftsmodell jedoch den Profit- und Hegemonialinteressen der türkischen und US-amerikanischen Regierung im Mittleren Osten widerspricht, wird versucht, die kurdische Bewegung und Bevölkerung vor eine unakzeptable Wahl zu stellen: Unterwerfung oder Vernichtung!

Wie dieses Konzept umgesetzt wird, dringt nun ans Tageslicht. Die AKP hatte in den vergangenen Monaten mehrfach verlauten lassen, dass sie im Rahmen ihres „Lösungskonzepts“ beabsichtige, Gründungsmitglieder und führende Kader der kurdischen Befreiungsbewegung auszuschalten. Dies wiederum gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Morde in Paris die Unterschrift des türkischen Gladio tragen, einer von der NATO gesteuerten extra-legalen Geheimdienststruktur, die mit dem Auftrag agiert, fortschrittliche linke Kräfte auszuschalten, die eine Gefahr für kapitalistische Interessen darstellen. Zübeyir Aydar, Mitglied des KCK-Exekutivrates, erklärte, dass ihm Informationen vorlägen, wonach bereits im Jahr 2011 Hinrichtungskommandos aus der Türkei entsandt worden seien, um führende Persönlichkeiten der kurdischen Freiheitsbewegung in Europa zu ermorden.

Aber hinsichtlich der Morde in Paris darf auch die Mitverantwortung des französischen Staates nicht unerwähnt bleiben. Vor allem unter der Sarkozy-Regierung wurden kurdische AktivistInnen und Vereine systematisch kriminalisiert. Annähernd 200 Kurdinnen und Kurden wurden aufgrund ihres politischen Engagements festgenommen. Das letzte Beispiel ist die Festnahme des prominenten kurdischen Politikers Adem Uzun im Oktober 2012. Diese Politik Frankreichs sowie die Kriminalisierung der politischen Betätigung von KurdInnen
durch die Aufnahme der PKK in die „Liste terroristischer Organisationen“ der EU haben dazu beigetragen, kurdische AktivistInnen in die Schusslinie zu rücken.

Die Aufklärung dieses politischen und menschenverachtenden Verbrechens sowie die Feststellung der eigentlichen Verantwortlichen für die Morde an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez ist für die kurdische Bevölkerung und für uns Frauen ein äußerst wichtiges und sensibles Thema. Solange die französische Justiz nicht nur die ausführenden Mörder, sondern auch die dunklen Kräfte und Staaten, die in diesen politischen Mord involviert sind, öffentlich macht, steht auch Frankreich unter dem Verdacht, in diesen Fall verwickelt zu sein. Da sich dieser dreifache Mord in einer kurdischen Institution ereignete, die rund um die Uhr durch den französischen Geheimdienst observiert wurde, tragen das französische Innen- und Justizministerium die Verantwortung, lückenlos aufzuklären, wie es zu einer solchen Tat kommen konnte.

In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass sich politische Morde und Attentate auf VertreterInnen von Befreiungsbewegungen in der jüngeren Geschichte Frankreichs auffällig häufen. Um einige Beispiele zu nennen: Am 29. Oktober 1965 wurde der marokkanische sozialistische Oppositionelle Mehdi Ben Barka mitten in Paris entführt. In den 70er und 80er Jahren wurden mehrere iranische Oppositionelle und Mitglieder der palästinensischen Befreiungsbewegung in Paris ermordet; so starb beispielsweise der PLO-Repräsentant Mahmud El Hamshari 1972 bei einem Bombenanschlag auf sein Wohnhaus. 1980 wurde in Paris der syrische Oppositionelle Salahaddin Bitar ermordet. Zwischen 1983 und 1987 ermordeten die spanischen paramilitärischen Anti-Terroreinheiten GAL insgesamt ca. 30 ETA-Mitglieder und baskische ZivilistInnen in Frankreich.1988 wurde die Repräsentantin des African National Congress (ANC), Dulcie September, auf den Treppenstufen vor dem damaligen ANC-Büro in Paris ermordet aufgefunden; ein 1998 veröffentlichter Bericht der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission ergab, dass dieser Mord gemeinschaftlich durch Todesschwadronen des Apartheidregimes und französische Milizionäre verübt wurde. Am 8. November 2012 wurde der Vorsitzende der französischen Sektion des Internationalen Rates der Tamil Eelam, Nadarajah Mathinthiran,
beim Verlassen seines Büros in Paris mit Pistolenschüssen hingerichtet. Kaum einer dieser politischen Morde wurde aufgeklärt; von der Verurteilung der Täter ganz zu schweigen. Bei den polizeilichen Ermittlungen und in der Medienberichterstattung wurde bezeichnender Weise in den meisten Fällen von „inneren Abrechnungen“ oder „internen Rivalitäten“ als Tatmotiv ausgegangen. Diese unvollständige Chronologie veranschaulicht die Dringlichkeit einer internationalen, aufmerksamen und kritischen Begleitung der staatlichen Ermittlungen zu den Tätern und Hintergründen der gezielten Morde an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez am 9. Januar 2013 im Kurdistan Informationszentrum in Paris.

Dieses grausame Verbrechen an drei kurdischen Politikerinnen im Zentrum von Paris bewerten wir zugleich als einen Angriff auf alle Menschen, die sich für Freiheit, Gerechtigkeit, Frauenrechte und Demokratie engagieren. Deshalb wenden wir uns an alle demokratischen Einrichtungen, Parteien und Personen, feministische Kreise und Frauenrechtsverteidigerinnen mit der dringenden Bitte, unsere Forderung an die französische Regierung nach einer lückenlosen Aufklärung dieser politischen Morde und deren Hintergründe zu unterstützen.

An die Medien wenden wir uns insbesondere mit der Bitte, durch eine verantwortungsvolle Berichterstattung und sorgfältige Recherche dazu beizutragen, dass die Öffentlichkeit wahrheitsgetreu informiert wird.

Denn wir wollen Gerechtigkeit für Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez!

Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
Düsseldorf, 22.01.2013

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