„Ein föderales Syrien ist die Lösung“

Ilham EhmedSerkan Demirel im Interview  mit Ilham Ehmed, Co-Vorsitzende des ‘Demokratischen  Rates Syriens’, Firatnews (ANF), 23.02.2016

Die Nachrichtenagentur Firat (ANF) sprach mit Ilham Ehmed, der Co-Vorsitzenden des ‘Demokratischen Rates Syriens’ (MSD), über das Vorrücken der ‘Demokratischen Syrischen Streitkräfte’ (SDF), über Genf III und über die jüngsten Entwicklungen in Rojava, einschließlich der Angriffe aus der Türkei.
Der ‘Demokratische Rat Syriens’ ist eine säkulare, linksgerichtete Oppositionsgruppe, die sich aus Kurden, Arabern, Turkmenen, Assyrern und Armeniern zusammensetzt. Er ist eine der Organisationen, welche die Revolution in Rojava anführen und er ist das politische Gremium der SDF.

„Die Türkei will keine Lösung in Rojava“

Was ist Ihre Bewertung der jüngst eskalierten türkischen Angriffe auf Rojava?
Es ist nicht das erste Mal, dass die Türkei Rojava angreift; sie greift schon seit geraumer Zeit an. Seit Beginn der Revolution hat sich die Türkei gegenüber Rojava feindlich verhalten. Die Türkei will in Rojava keine eigene politische Willensbildung und keine Lösung von Problemen. Deswegen unterstützt die Türkei teilweise islamistische Banden, die Rojava angreifen und teilweise greift sie Rojava direkt an. In der letzten Zeit hat sie ihre Angriffe auf Rojava aus vielerlei Gründen verstärkt. Sie behauptet, dass sie mit ihren Angriffen militärische Operationen der Demokratischen Syrischen Streitkräfte mit dem Ziel Azaz verhindern wolle, aber das stimmt nicht. Der eigentliche Grund für die Angriffe der Türkei ist es, dass sie nicht mehr Teil der politischen Lösung für Syrien ist und versucht wieder ins Spiel zu kommen, indem sie Rojava angreift.
Ein Großteil der Opposition in der Region ist loyal gegenüber der Al-Nusra-Front und alle diese Gruppen stehen unter türkischem Schutz. Diese Gruppen sind Handlanger ohne eigenes politisches Programm. Deswegen sind sie auch nach den jüngsten russischen Bombardierungen einfach weggelaufen. Dies ermöglichte das Vorrücken des syrischen Regimes in der letzten Zeit.

Was ist die Politik der SDF Politik in dieser Hinsicht?
Die SDF haben versucht, den Vormarsch der Regimestreitkräfte zu verhindern, indem sie Gebiete besetzt haben, welche die Dschihadisten verlassen haben. Dieses Vorgehen der SDF hat die Türkei verärgert und deswegen hat sie ihre Angriffe auf Rojava verstärkt. Mit ihren Attacken versucht die Türkei der internationalen Gemeinschaft zu sagen, dass sie in dieser Region nach wie vor einflussreich ist und ernst genommen werden will.

„Die Türkei sucht einen Grund um Rojava anzugreifen“

Die Türkei hat die ‘Volksverteidigungseinheiten’ (YPG) für den Anschlag verantwortlich gemacht, der von den ‘Freiheitsfalken Kurdistans’ (TAK) verübt wurde. Was ist dabei das Ziel der Türkei?
Durch die Schuldzuweisung für den Anschlag an die YPG will die Türkei die YPG als terroristische Organisation brandmarken und die Begründung für einen Angriff auf Rojava schaffen. Gleichzeitig will sie die internationale Unterstützung und militärische Koordinierung für und mit den ‘Syrischen Demokratischen Streitkräften’ (SDF) stoppen.
Die Türkei hat versucht, den Anschlag der YPG unter zu schieben und behauptete, dass der Attentäter aus Amuda in Rojava stamme. Aber dieser Versuch scheiterte. Direkt nach dem Anschlag haben sich türkische Offizielle mit Vertretern der internationalen Koalition getroffen, ihre Behauptungen wurden ihnen allerdings nicht abgekauft.
Die Behauptungen der Türkei sind falsch, weil die YPG nie die Türkei angegriffen hat, selbst als von dort aus Angriffe und Bombenanschläge auf Kobane zielten. Die YPG ist heute in einer relativ komfortablen Situation und es gehört nicht zu ihrer Strategie die Türkei anzugreifen . Ihre zentrale Strategie ist es, den IS zu besiegen und einen demokratischen Wandel in Syrien herbei zu führen. Die falschen Anschuldigungen der Türkei haben niemanden überzeugt.

“Die Türkei will den Grenzübergang Azaz kontrollieren”

Warum ist der Türkei Azaz so wichtig – oder geht es gar nicht um Azaz?
Die Türkei will den Grenzübergang bei Azaz kontrollieren, weil sie über diesen Grenzübergang Waffen an die islamistischen Banden liefert. Die Blockade der Straße zwischen Azaz und Aleppo stört die Türkei, denn es war die Gegend, aus der die Türkei ihre Syrienpolitik lenkte; durch diesen Grenzübergang und durch Aleppo in das gesamte syrische Territorium. Nach der Blockade dieser Straße ist auch die Syrienpolitik der Türkei blockiert und deswegen hat sie damit begonnen eine „Azaz-Frage“ aufzuwerfen. Abgesehen davon hat die Stadt Azaz keine Bedeutung für die Türkei.
Es ist allgemein bekannt, dass die ‘Demokratischen Syrischen Streitkräfte’ (SDF) den IS-Terror überall bekämpfen, wo er existiert. Die Gebiete, in denen die SDF jetzt vorgerückt sind, wurden bisher von Al-Nusra gehalten, die ebenfalls zu den Terrororganisationen zählt. Es gibt niemanden, der unsere Fortschritte in diesen Gebieten anzweifelt. Alle, die in diesen Gebieten nicht zusammen mit Al Nusra kämpfen, haben sich, um sich zu verteidigen den SDF angeschlossen. Unser Ziel ist es, alle Kräfte zu vereinen die außerhalb von Al-Nusra kämpfen und einen harten Kampf gegen IS und Al-Nusra führen wollen.

Wie werden Sie reagieren, wenn die Türkei ihre Aggression gegen Rojava fortführt?
Wir glauben nicht, dass die Türkei diese Politik wird fortsetzen können, weil sie im eigenen Land an schweren und ungelösten Probleme leidet. Tatsächlich macht die Türkei so viel Lärm, weil sie versucht damit ihre innere Lage vor der Weltöffentlichkeit zu verstecken.
Der türkische Staat massakriert Zivilisten in Diyarbakir, in Nusaybin, in Cizre, in Silopi und in vielen anderen Orten und dieser Zustand ist bereits ein weltweites Thema. Die Türkei wird deswegen kritisiert und um ihre eigenen Fehler zu verbergen, will sie die Aufmerksamkeit auf Rojava lenken.
Die Türkei muss ihre Angriffe stoppen und diese Haltung gegenüber Rojava aufgeben . Sie hat kein Recht in Afrin oder Tell Rifaat Zivilisten zu bombardieren. Keine dieser Handlungen dient türkischen Interessen. Die Türkei muss davon überzeugt werden, dass sie nicht einfach nach Lust und Laune ihre Nachbarn bombardieren kann. Dies ist nicht ihre Region, nicht ihr Grenzgebiet und nicht ihr Land. Die Türkei muss das internationale Recht respektieren.
Die Vereinten Nationen haben die Türkei aufgefordert , dieses Recht zu befolgen. Wir wollen nicht eskalieren, das ist nicht unser Stil. Wir haben der Türkei nicht den Krieg erklärt, wir haben das auch nicht vor, aber die Türkei muss mit ihrem Beschuss aufhören. Unsere Geduld hat Grenzen.

“Es gibt vielleicht kein Genf III”

Die gescheiterten Genf-III-Gespräche werden voraussichtlich am 25. Februar wieder beginnen, aber die aktuellen Entwicklungen auf dem Boden könnten zum weiteren Hinausschieben der Gespräche führen. Was denken Sie in diesem Zusammenhang?
Wir glauben nicht, dass die Gespräche unter diesen Umständen stattfinden können. Vielleicht wird es gar kein Genf III geben. Die Situation der Opposition ist jetzt eine andere als sie vor dem Treffen in Genf war. Sie war vorher in und um Aleppo präsent, aber dort hat sie jetzt auch verloren. Wenn das Regime in Damaskus die gesamte Kontrolle in Aleppo übernimmt, könnte es alle Verhandlungen verweigern, weil es keine Opposition mehr gibt.

“Ein föderales System für Syrien …”

Was ist mit den unterschiedlichen Kräften in Rojava?

Der aktuelle Stand der Dinge zeigt, dass Kurden und andere Kräfte in Rojava durch ihre militärischen Erfolge und die in ihren Gebieten implementierten politischen Maßnahmen vorgeben werden, wie das politische System Syriens aussehen sollte. In Syrien ist jetzt ein föderales System in der Diskussion; innerhalb dieses föderalen Systems können die Kurden in Nordsyrien eine autonome Region erhalten und das System weiter entwickeln, welches sie gerade aufbauen.

Wollen Sie damit sagen, dass das bestehende System in Syrien in eine föderale Struktur verwandelt wird und dass die Entscheidung darüber bereits getroffen wurde?
Ich möchte jetzt noch nicht über die Details dazu sprechen. Zentral ist gerade der Kampf, der in Rojava geführt wird und es ist unvermeidlich, dass wir die Demokratisierung Syriens im Zusammenhang mit diesem Kampf erreichen werden.
Anlässlich von Diskussionen über Strukturen, auch unter Einschluss internationaler Kräfte, haben wir beobachtet, dass alles in Richtung der Bildung von drei Bundesländern in Syrien geht. Das wollen die Völker Syriens und das wollen auch die Staaten, Parteien und Gruppen, die eine politische Lösung dieser Krise suchen. Amerika und Russland sind auch der gleichen Meinung.

Ist diese Entscheidung bereits getroffen worden und wie wird die Bildung der drei Bundesländer erfolgen?
Wie ich gerade gesagt habe, möchte ich zu dieser Frage im Moment noch nicht ins Detail gehen. Dennoch kann ich sagen, dass dieser Vorschlag von jetzt an diskutiert werden wird, das heißt die Bildung eines Bundesstaates Syrien der aus Nordsyrien , Südsyrien und Mittelsyrien besteht. Jedes dieser Bundesländer wird seine Besonderheiten an Identitäten und ethnischer Vielfalt bewahren. Jedes Bundesland wird ein eigenes Parlament haben. Das ist alles, was ich im Moment sagen kann.

Wie ist Einstellung des Regimes und der Oppositionskräfte zum vorgeschlagenen föderalen System?
Im Vergleich zur Opposition verhält sich das Regime bei diesem Thema deutlich moderater. Diejenigen, die eine politische Lösung in Syrien suchen, glauben aber, dass die syrische Krise mit diesem System gelöst werden kann.

Wenn dies geschieht wird Genf III bedeutungslos. Wird das Ergebnis dann so sein, wie die Kurden es von Anfang an vorgeschlagen haben?
Ich will nichts anderes dazu zu sagen. Wir werden abwarten und sehen.

Was wird mit dem syrischen Regime passieren, wie wird es mit Assad weitergehen?
Eine Wahl unter Einschluss der drei Bundesländer könnte abgehalten werden, um zu wählen wen die Menschen haben wollen.

Wird es noch einige Zeit brauchen um den Kanton Afrin mit militärischen Initiativen der Demokratischen Syrischen Streitkräfte mit den anderen Kantonen zu vereinen?
Es wird noch einige Zeit dauern diese Gebiete zu vereinen. Die Militäroperationen sollen nicht nur die Kantone vereinen, sondern auch die IS-Gefahr in diesen Gebieten beseitigen. Der IS ist in diesen Gebieten eine große Bedrohung, nicht nur für die Kurden, sondern auch für die Araber. Diese Bedrohung muss beseitigt werden.

Wollen die USA die Vereinigung dieser Gebiete auch, trotz der wachsenden Reaktion der Türkei?
Die USA und Russland wissen, dass es der IS ist, der die Vereinigung der Kantone verhindert und dass seine Ausschaltung das Erreichen dieses Ziels möglich machen wird.