Ramo Menda, Sozialwissenschaftler und Experte für interreligiösen Dialog, 12.11.2017
Die Politik in Europa und Deutschland rühmt sich gerne Mal mit den demokratischen Grundrechten in den westlichen Gesellschaften, so z.B. mit der Meinungs- und Pressefreiheit oder dem Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Diese grundlegenden Menschenrechte, welche nach dem Niedergang des Faschismus, dem Holocaust und dem Ende des Zweiten Weltkriegs errungen wurden, dienen oft als Distinktionsmittel gegenüber dem Rest der Welt. Diese Grundrechte sollen gegen alles und jeden verteidigt werden. Zu Recht.
Die Presse- und Meinungsfreiheit war so sehr ihrer Verteidigung wert, dass z.B. entgegen des allgemeinen Darstellungsverbots von Mohammeds Abbild im Islam die Zeitungen in diversen europäischen Staaten es trotzdem abdruckten oder online zeigten. Der Karikaturenstreit oder der Fall Charlie Hebdo werden deshalb von manch einem gerne als Beispiele des „Kampfes der Kulturen“ dargestellt – auf der einen Seite die westlichen Errungenschaften der Meinungs- und Pressefreiheit, auf der anderen Seite die religiösen Gebote und Gefühle von Milliarden von Muslimen. Ein Argumentationsmuster der europäischen Verfechter der Grundrechte ist: Die Presse- und Meinungsfreiheit muss um jeden Preis verteidigt werden, auch wenn dabei die religiösen Gefühle von Gläubigen verletzt werden oder der antiwestliche Islamismus gestärkt wird. Zu Recht.
Doch das Einstehen für und die Verteidigung von diesen Grundrechten scheint in Deutschland eine Grenze zu haben. Diese Grenze ist die kurdische Sache. Wenn Kurdinnen und Kurden sich zu ihrer Befreiungsbewegung und Abdullah Öcalan bekennen, dann darf das nicht sein. Auf Demonstrationen und Versammlungen ist das Zeigen von Öcalans Bildern oder Flaggen der kurdischen Bewegung als Symbol der Meinung von Kurdinnen und Kurden nicht erlaubt. So wurde z. B. am 4. November in Düsseldorf eine Demonstration von ca. 10 000 Kurden und solidarischen Menschen abgebrochen, weil die Demonstranten die Symbole ihrer „verbotenen“ Meinung zeigten. Am 9. November wurde das Bild von Öcalan von einem Bus abgeklebt, der zurzeit durch Europa tourt, um Öcalans sozialphilosophische, pro-demokratische und feministische Bücher bekannter und um auf seine unmenschliche Lage im türkischen Gefängnis aufmerksamer zu machen. Die Polizei nahm sogar Menschen fest, die Öcalans Portrait auf ihrer Kleidung trugen.
Dabei ist Öcalan noch nicht einmal ein Prophet, sondern „nur“ der Initiator des letzten von den unzähligen kurdischen Widerständen der letzten beiden Jahrhunderte. Nicht zuletzt ist er auch ein effizienter demokratischer und feministischer Vordenker der (patriarchalischen und tribalistischen) kurdischen Gesellschaft. Seine Ideen werden derzeit in der Türkei, in Syrien, im Iran oder Irak mehr oder minder in die Praxis umgesetzt und dienen als nicht-separatistisches Lösungsmodell der kurdischen Frage. Ferner wurden für ihn weltweit 10,3 Millionen Unterschriften von Menschen gesammelt, die Öcalan als ihren politischen Repräsentanten verstehen (Weltrekord). Ein bisschen prophetisch ist das schon. Zumindest was die Wirkung der Ideen und die große Anzahl der Anhängerschaft angeht. Auch ein Abraham, Moses, Jesus, Mohammed, aber auch Mandela oder Gandhi waren in den Augen der Herrscher „Terroristen“ ihrer Zeit.
Doch wie ist diese widersprüchliche und in Sachen Kurden flexible Haltung und Justiz, welche auf der einen Seite potenziell eine ganze Religionsgemeinschaft (1,5 Milliarden Menschen) für die Presse- und Meinungsfreiheit gegen sich zu bringen riskiert, auf der anderen Seite aber den Kurden ihre grundlegenden Menschenrechte in Deutschland verwehrt, möglich? Ist es tatsächlich der Druck Erdogans oder das kurdische Opfer, das bei den Näherungen zwischen BRD und Türkei gebracht wird? Sind es wirklich nur die Interessen der deutschen Wirtschaft? Ist es das falsche Bild von der kurdischen Bewegung und Öcalan, welches durch die jahrzehntelange verzerrte und dämonisierende Darstellung der deutschen Medien erfolgt ist? Wahrscheinlich spielen multiple Faktoren eine Rolle ((der letzte Artikel von Murat Cakir in Kurdistan Report z. B. wirft einen Blick in die Verflechtung vom türkischen und deutschen Kapitals und Interessen, Link: http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2017/55-kr-194-november-dezember-2017/645-veraenderung-der-tuerkei-politik-oder-graduelle-korrektur)).
Dabei führt die kurdische Bewegung mit den Ideen von Öcalan nicht nur einen Kampf für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frauen und Kurden, sondern auch gegen den Islamismus, den politischen Islam und patriarchale Mentalität insgesamt. Und damit ist nicht nur der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat gemeint: Ob Saudi-Arabien, Iran oder Türkei, in jedem dieser Staaten fungiert ein antisemitischer und antiwestlicher politischer Islam als Ideologie des Überbaus. Ziel und Zweck des politischen Islams ist die Ordnung und Strukturierung der Gesellschaft nach vermeintlich religiösen Geboten. Dass diese Praxis in sehr unislamische Zustände ausartet, zeigen die derzeitigen Verhältnisse aus menschenrechtlicher, moralischer und politischer Sicht in diesen jeweiligen Staaten selbst. Kurz: Es sind eben diese Akteure (A. Öcalan und die kurdische Bewegung um die PKK), die die BRD oder die EU aufgrund ökonomischer und politischer Beziehungen zu den nahöstlichen Staaten kriminalisiert, welche aber den Kampf um Demokratisierung, Trennung von Religion und Politik (politische Säkularität für die Freiheit des Glaubens) und der Gleichberechtigung der Geschlechter führen. Das sind eben diejenigen Werte, mit denen man sich im Westen in Abgrenzung z.B. zum Nahen Osten oder auch China Russland rühmt. Gleichzeitig werden in Deutschland für die Interessen der islamistischen Staaten und Regierungen die demokratischen Menschenrechte derjenigen mit den Füßen getreten, die diese Akteure im Kampf gegen Islamisten und Islamismus unterstützen.
Wichtiger an dieser Stelle aber ist: Den Kurdinnen und Kurden werden auf eine absurde Art und Weise ihre grundlegenden Menschenrechte in Deutschland verwehrt. Ihre Würde wird angetastet, indem ihre Identität attackiert wird. Sie werden kriminalisiert und stigmatisiert. Diese feindliche Vorgehensweise und Praxis kennen sie eigentlich nur in den fremdherrschaftlichen Diktaturen, aus denen sie nach Deutschland geflüchtet sind. Doch auch für die Gesamtgesellschaft birgt diese Praxis Gefahren in sich, denn eine erstmalige Missachtung der Menschenrechte von einer spezifischen Gruppe eröffnet zugleich das Tor der Verletzung der Rechte von anderen. Vor dieser gefährlichen Entwicklung und der heuchlerischen Politik der BRD muss die deutsche Gesellschaft und Öffentlichkeit gewarnt und sensibilisiert werden, obgleich ich keine Hoffnung darüber habe, dass dies durch den herkömmlichen „Journalismus“ und Massenmedien geschehen wird.