Abid Kar über Mexmûr als Modell für ein alternatives Bildungssystem, 08.12.2018
Gerade begann für 3500 Schülerinnen und Schüler das neue Schuljahr im Camp Mexmûr (Maxmur). Im Camp Şehîd Rustem Cudi gibt es vier Grund-, zwei Mittelschulen und eine Oberschule, an denen fast 3500 Kinder und Jugendliche unterrichtet werden. Einen Tag vor Schulbeginn wurde das bevorstehende Schuljahr mit einer feierlichen Zeremonie eröffnet. Zeynep Kara, eine der Schuldirektorinnen, unterstrich in ihrer Rede anlässlich des neuen Schuljahres die Besonderheit, dass in Mexmûr der Unterricht auf Kurdisch stattfindet, in einer Sprache, die immer wieder großem Druck und Verboten ausgesetzt ist. Sie brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Schülerinnen und Schüler diese einmalige Chance zu schätzen wissen. Das Bildungssystem von Mexmûr, das im Laufe der vergangenen 24 Jahre unter größten Mühen und den widrigsten Bedingungen aufgebaut wurde, hat sich mittlerweile zu einem beispielhaften Modell für alle Kurdinnen und Kurden entwickelt.
Unterricht auf nackten Steinen
Aufgrund der Unterdrückung, der Gewalt und Folter, die der türkische Staat gegen die kurdische Bevölkerung ausübte, waren in den Jahren 1993 und 1994 tausende Menschen gezwungen, ihre Heimatdörfer in Richtung Südkurdistan (Nordirak) zu verlassen. Die heutigen Bewohnerinnen und Bewohner des Camps Mexmûr wurden in den neunziger Jahren während ihrer Flucht vor den Angriffen des türkischen Staates zunächst in den Camps Seraniş und Bihere untergebracht. Während man unter widrigen Bedingungen in den Camps ausharrte, machten sich die geflüchteten Menschen sogleich auf die Suche nach Möglichkeiten, ihren Kindern eine angemessene Bildung zugutekommen zu lassen. Mit einfachsten Mitteln begann man damals Kurse für die Kinder und Jugendlichen anzubieten. Da keinerlei Hefte, Stifte und Bücher zur Verfügung standen, war man gezwungen, auf Steine zu schreiben und zu kritzeln. Infolge des steigenden Drucks auf das damalige Camp waren die Menschen erneut zur Flucht gezwungen und siedelten in die beiden Camps Etrûş und Geliyê Qiyametê um.
Zwischen 1994 und 1997 stieg die Zahl der Menschen in den beiden Camps auf 15.000. Eines der Hauptprobleme bestand in der fehlenden Bildung für die jüngsten Campbewohner. So entschloss man sich, 10 bis 15 Personen aus dem Camp, die selbst keinerlei Ausbildung im Lehrberuf abgeschlossen hatten, mit der Einrichtung von Bildungsangeboten zu beauftragen. Unter den damaligen schwierigen Bedingungen begann man somit bei null und baute ein Bildungssystem auf. Obwohl nicht einmal Bücher zur Verfügung standen, begann man die Kinder und Jugendlichen in den Camps zu unterrichten und während der bitterkalten Wintermonate in Zelten auf schwarzem Holz als Tafel- und Papierersatz zu unterrichten.
Die erste Grundschule
Im Verlauf der Zeit gewann man wertvolle neue Erfahrungen und so gelang es, völlig neue Möglichkeiten zu schaffen. So wurde die Gründung der ersten Grundschule möglich. Im Jahr 1996 öffnete im Camp Etrûş die erste Mittelschule ihre Türen. Sie wurde nach dem ehemaligen Mitglied der Campleitung Zeynep Erdem (Jiyan) benannt, die bei einem Angriff auf das Camp im Jahr 1995 getötet worden war. Im Jahr 1996 besuchten ca. 400 Schülerinnen und Schüler die Schulen im Camp.
Während das Bildungssystem sich stetig weiterentwickelte und wuchs, nahm der Druck auf die Menschen im Camp nicht ab. Dies führte dazu, dass die beiden Camps Etrûş und Geliye Qiyametê 1997 verlassen wurden. Der Großteil der Menschen zog weiter in das Ninova-Gebiet, während sich andere in Qesrok, Sêmêlê, Hesenîkê oder weiteren in der Umgebung liegenden Gebieten niederließen. Auch in Ninova wurde der Unterricht für die Kinder und Jugendlichen fortgesetzt. Doch im Jahr 1998 musste auch das dortige Camp aufgegeben werden und die Menschen zogen nach Nehdarê weiter, bevor sie letztendlich in Mexmûr landeten, das zum Gebiet Mûsil (Mossul) gehört.
Stühle und Tische aus Lehm
Mexmûr wurde zum letzten Fluchtpunkt der Menschen. Erst später wurde das Camp in »Şehîd Rustem Cudi« umbenannt. Aufgrund der größeren Entfernung zur türkischen Grenze und des schwächeren Einflusses der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) auf diese Region unterlag das neu gegründete Camp einem geringeren Druck. Seit 1998 blüht daher das Leben in allen Bereichen erneut auf, so auch im Bildungsbereich.
Im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre wurde in Mexmûr ein Bildungssystem aufgebaut, das vom Kindergarten bis zur Akademie alle Bereiche abdeckt. Tausende Schülerinnen und Schüler absolvierten die Schule auf Kurdisch und auch zahlreiche Lehrkräfte wurden in Mexmûr selbst ausgebildet. Mithilfe der Bevölkerung begannen 1998 die Bauarbeiten für neue Lehr- und Lernorte. Stühle und Tische wurden aus Lehm hergestellt. Nachdem man also zunächst mit einfachsten Mitteln begonnen hatte, begannen die irakische Regierung und die UN den Schulen im Camp Hilfe zur Verfügung zu stellen.
Heute findet man zwölf Schulen im Camp, an denen tausende Kinder und Jugendliche unterrichtet werden: fünf Kindergärten, vier Grundschulen, zwei Mittelschulen, die nach Şehîd Jiyan und Şehîd Deniz benannt sind, und eine Oberschule. An der Şehîd-Koçerin-Oberschule machten seit dem Jahr 2000 über 1200 Schülerinnen und Schüler ihr Abitur. Viele von ihnen gingen später an südkurdische Universitäten.
Unter der Schirmherrschaft der Akademie Şehîd Ferhat Kurtay wurde im Jahr 2014 das Şehîd-Kato-Institut gegründet und damit ein wichtiger Fortschritt für das Bildungssystem erreicht. An dem Institut können Interessierte seither eine zweijährige Ausbildung absolvieren. Im ersten Ausbildungsjahr wird eine Art Studium generale besucht, um sich dann im zweiten Jahr in einem Berufszweig zu spezialisieren. Dazu zählen u. a. Pädagogik, Medien und Gesundheit. Nach Abschluss der zweijährigen Ausbildung erhalten die Absolventinnen und Absolventen ein offizielles Zeugnis, das vom Bildungssystem des Camps ausgestellt wird.
500 Universitätsabsolventinnen und -absolventen
Derzeit besuchen ca. 350 Kinder die Kindergärten, jährlich durchschnittlich ca. 3200 Kinder und Jugendliche die Grund-, Mittel- und Oberschulen, das Institut und die Akademien. Seit 2005 können Schülerinnen und Schüler aus Mexmûr auch Universitäten in der Autonomen Region Kurdistan besuchen, derzeit sind es dort ca. 200 Studierende aus Mexmûr. Sie studieren u. a. Jura, Politikwissenschaften, Medizin, Physik, Biologie, Medienwissenschaften, Soziologie, Fremdsprachen, Psychologie und Geographie. Mehr als 500 Jugendliche aus Mexmûr machten seit 2005 auf diesem Weg ihren Universitätsabschluss. Viele von ihnen arbeiten heute als Lehrkräfte oder Ärztinnen und Ärzte in Mexmûr.
200 Lehrerinnen und Lehrer
Die 200 Lehrkräfte, die heute an den Schulen im Camp unterrichten, gingen dort früher selbst zur Schule und ein Teil derjenigen, die in den letzten Jahren ihr Pädagogik-Studium in Südkurdistan abschlossen, unterrichtet heute an den Schulen in Mexmûr. Alle zwei Jahre findet im Camp eine Pädagogik-Konferenz statt, um die pädagogischen Arbeiten und das Bildungssystem Mexmûrs weiterzuentwickeln. Auch die Lehrerinnen diskutieren und entscheiden zusätzlich im Rahmen einer eigenen Konferenz. Auf der auch alle zwei Jahre stattfinden Konferenz werden zweijährige Bildungspläne erstellt. Zudem bewerten Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit den Lehrkräften die vergangenen Lehrpläne, die Arbeit der Leitungsebene des Bildungssystems und die Fortschritte der Schülerinnen und Schüler. Auf Grundlage dieser Diskussionen werden dann gemeinsam neue Planungen für die folgenden zwei Jahre verabschiedet.
An den Schulen im Camp werden folgende Fächer unterrichtet: Soziologie, Physik, Chemie, Biologie, Jineolojî, Ökologie, Kultur, Sport, Geschichte, Mathematik, Ökonomie und Philosophie. All diese Fächer werden auf Kurdisch unterrichtet, also in der Muttersprache der Kinder. Nicht nur deswegen können wir ohne Zweifel sagen, dass das Bildungssystem von Mexmûr als ein Vorbild für die gesamte kurdische Gesellschaft betrachtet werden kann.
In den ersten Jahren nach Aufbau des Camps gab es keinerlei Bücher oder anderweitige Bildungsmaterialien. Man ging deshalb dazu über, während der Sommerferien eigenhändig Bücher und andere Materialien anzufertigen. Mit der Zeit wurden auch Computer für die Schulen organisiert. Somit konnten Bücher am Computer verfasst und in Druck gegeben werden. Alle Schulbücher wurden auf Kurdisch durch die Lehrerinnen und Lehrer des Camps verfasst. Doch aufgrund einer fehlenden Druckerei im Camp kam es bei der Vervielfältigung der Bücher zu Schwierigkeiten. Vor dem Jahr 2005 stellten die UN die Schulkleidung, Hefte, Stifte und andere Materialien für die Schulen zur Verfügung. Doch in den letzten Jahren stellten sowohl die UN als auch die Regionalregierung Kurdistan und die irakische Zentralregierung ihre Hilfen in dem Bereich vollständig ein. Alle Schülerinnen und Schüler sind heute ausschließlich auf die Unterstützung durch ihre Familien angewiesen.
Kurmancî und Soranî als Unterrichtssprachen
Einer der wichtigsten Punkte im Bereich der Bildung in Mexmûr ist das Thema Muttersprache. Vom Kindergarten bis zum Institut wird aller Unterricht auf Kurmancî gegeben, d. h. in einem der kurdischen Dialekte. In den Mittel- und Oberschulen findet der Unterricht auf Soranî statt. Neben dem muttersprachlichen Unterricht wird auch Englisch- und Türkischunterricht angeboten.
M. Şirin Çetin, seit 1993 im Bildungsbereich aktiv und heute Verantwortliche für die Sprachbildungskommission im Camp, sprach vor Kurzem mit RojNews über das Bildungssystem Mexmûrs und dessen derzeitige Ziele. Çetin erinnerte dabei an die schwierigen Bedingungen, unter denen das Bildungssystem dort aufgebaut worden war. Hauptziel sei es stets gewesen, den Kindern und Jugendlichen das notwendige Wissen und Bewusstsein zu vermitteln. Heute steige die Zahl der Schülerinnen und Schüler, aber auch der Lehrkräfte stetig. Zudem verfüge man heute über selbst hergestellte Schulbücher und alle Schulabsolventinnen und -absolventen könnten sich für eine Berufsausbildung bzw. ein Studium ihrer Wahl entscheiden. Çetin unterstrich auch, dass die Regionalregierung Kurdistan das Bildungssystem Mexmûrs mittlerweile offiziell anerkannt habe, auch wenn es an diesem Punkt noch Ausbaubedarf gebe.
Entwicklung der Schülerinnen und Schüler statt Zwang und Druck
Çetin verdeutlichte das grundlegende Ziel des Bildungssystems: »Auf dem Weg der Bildung wollen wir die Geschwisterlichkeit der Völker fördern. Wir wollen zeigen, dass Macht nichts Positives ist. Das staatliche System hat nicht die Freiheit der Gesellschaft zum Ziel und kann auch keinen Frieden gewährleisten. Wir wollen, dass die Gesellschaft sich selbst verwalten kann. Ich denke, dass das kurdische Volk ein derartiges Selbstverwaltungssystem entwickeln und umsetzen kann. So unterscheidet sich z. B. der Lehrplan von vor zwei Jahren stark von unserem heutigen. Auch unsere Bildungsinstitutionen und unsere Verlage betreiben wir heute anders. Unser Ziel ist es, alle Systeme abzuschaffen, durch die die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler behindert wird. Deshalb versuchen wir alle Methoden zu verändern, die eine Last für unsere Kinder und Jugendlichen darstellen, und forschen in diesem Bereich.«
Şirin Çetin sprach in dem Interview auch von der herausragenden Bedeutung der Lehrkräfte für die Qualität eines jeden Bildungssystems: »Je nach Bedarf stellen wir neue Lehrkräfte ein. Wir freuen uns natürlich auch über welche, die sich freiwillig engagieren wollen und über besonderes Wissen verfügen. Früher haben wir auch Schülerinnen und Schüler der Mittelschulen als Lehrkräfte akzeptiert. Doch diesen Ansatz haben wir nach einer gewissen Zeit verworfen. Wir haben uns daher entschieden, eine klare Grenze zu ziehen und nur noch diejenigen einzustellen, die die Oberschule abgeschlossen haben. Nachdem es unseren Jugendlichen ermöglicht worden war, an den Universitäten in Südkurdistan zu studieren, hatten wir plötzlich sehr viele Lehramtsanwärterinnen und -anwärter. Wir begannen damals also damit, die Universitätsabsolventinnen und -absolventen als Lehrkräfte im Camp anzustellen.«
Zu wenig Lehrerinnen und Lehrer
Laut Çetin gibt es heute trotz der vielen Fortschritte noch zahlreiche Probleme im Bildungssystem des Camps: »Heute wird fast auf der ganzen Welt in Klassen mit 20 Kindern unterrichtet. Weil wir über viel zu wenig Räumlichkeiten verfügen, müssen wir Klassen mit 35 Kindern und Jugendlichen unterrichten. Normalerweise unterrichten Lehrkräfte 15 bis 16 Stunden pro Woche, aber bei uns sind es aufgrund der fehlenden Lehrkräfte 20 Stunden. Für den Physik- und Chemieunterricht wird eigentlich eine Ausstattung benötigt, um wissenschaftliche Experimente durchführen zu können. Auch das fehlt uns, weshalb wir diese Fächer nicht so unterrichten können, wie wir es uns wünschen würden. Aufgrund ganz einfacher Dinge müssen unsere Schülerinnen und Schüler leiden. Daher müssen sie viele Hindernisse überwinden, wenn sie auf die Universität kommen.«
Seit Jahren hat es laut Çetin von außen keine Hilfsleistungen mehr gegeben: »Uns wurde von offizieller Seite der Status als politische Flüchtlinge zuerkannt, doch trotzdem erhalten wir keine Hilfe. Die Schülerinnen und Schüler müssen alles Notwendige selbst beschaffen. Wenn die Familien arm sind, können sie ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Diese Familien beantragen Hilfe bei der südkurdischen Regierung, doch erhalten sie keinerlei Antwort.«
Die Regionalregierung Kurdistan erkennt die Schulabschlüsse aus dem Camp Mexmûr offiziell an, behandelt sie aber laut Çetin wie zweitklassige Abschlüsse: »Das ist eine politische Entscheidung. Sie haben Angst, unsere Schülerinnen und Schüler an ihren Universitäten zuzulassen. Auch auf dem Arbeitsmarkt werden diejenigen mit naturwissenschaftlichen Abschlüssen eher akzeptiert, Abschlüsse wie Literatur- und Politikwissenschaften sind für den Arbeitsmarkt praktisch wertlos. Ärztinnen und Ärzte oder Ingenieurinnen und Ingenieure können eine Arbeit finden, denn sie werden nicht als gefährlich für das System betrachtet.«
Kurdische Sprache hat ihre Anerkennung gewonnen
Çetin betonte, dass Kurdisch heute als Bildungssprache gleichrangig mit Englisch, Französisch, Arabisch oder anderen Sprachen sei und in allen Wissenschaftsbereichen verwendet werden könne. Kurdisch stelle in diesem Sinne kein Hindernis mehr dar. Dadurch hätten auch Diskussionen darüber, ob Kurdisch als literarische Sprache verwendet werden könne, ein Ende gefunden.
Laut Çetin ist man darauf bedacht, das Bildungssystem im Camp Mexmûr weiterzuentwickeln. Mit diesem Ziel wurde eine allgemeine Forschungsinstitution eingerichtet. Man habe sich zum Ziel gesetzt, Forschung über staatliche Bildungssysteme zu betreiben: »Demnächst wird eine neue Phase beginnen. Wir müssen mehr darüber wissen, wie sich die Systeme im Bereich des Wissens und der Wissensvermittlung entwickelt haben. Wir haben daher Bedarf an diesbezüglicher Forschung aus den verschiedensten Ländern. Dafür haben wir einen nächsten Schritt unternommen und ca. 100 Lehrkräfte mit dieser Forschungsarbeit beauftragt. Auf Grundlage der Ergebnisse unserer Forschungen werden wir viele Veränderungen in unserem Bildungssystem vornehmen können.«