„Für was haben wir uns so viele Schimpfworte angehört?”

Lale Mansur im Interview mit Asu Maro, 23.06.2013

Die türkische Tageszeitung Milliyet sprach mit der Schauspielerin Lale Mansur, die als eine der wenigen Frauen in der Kommission der Weisen mit der Bevölkerung aus der Mittelmeerregion der Türkei das Gespräch über den Lösungsprozess gesucht hat. Mansur erklärt, dass die Aufnahme des Lösungsprozesses in ihr große Hoffnungen erweckt hatte. Allerdings habe die Haltung der türkischen Regierung im Zuge der Gezi-Proteste wieder Sorgen und Zweifel bei ihr entfacht. Im Folgenden geben wir das von Asu Maro geführte Interview mit Mansur in Auszügen wieder:

Sie waren während der Gezi Ereignisse im Ausland?

Ja. Hätten unsere Aufnahmearbeiten rechtzeitig ein Ende gefunden, wir wären in der ersten Nacht, als die Bilder von den brennenden Zelten in die Medien gelangten, im Gezi-Park gewesen. Der Ort, wo wir waren, lag in einem ländlichen Gebiet in Frankreich. Wir hatten Probleme eine Verbindung zum Internet aufzubauen. Aber am nächsten Tag ist mein Flugzeug früh losgeflogen und ich bin direkt zum Gezi-Park gefahren. Danach hatte unsere Gruppe in Ankara eine Sitzung. Diese Sitzung verlief sehr angespannt.

Ihr habt auf der Sitzung bestimmt über Gezi gesprochen?

Selbstverständlich. Genau wie jetzt auch, wusste damals niemand genau, was los war. Einige sagten: „Der Ministerpräsident soll zurück ins Land kommen und sprechen. Mal schauen, was dann passiert.” Es ist zurückgekehrt und die Lage hat sich verschlimmert. Ich war vor 15 Jahren Teil der Taksim-Plattform. Damals ging es auch gegen den Umbau des Platzes. Wir wollten, dass die Umgebung von Taksim, die dortigen Ladenbesitzer, die Anwohner, die Architektenkammer zusammenkommen und wir gemeinsam über Taksim sprechen. Auch heute war es so. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Zelte niedergerissen wurden. Danach hatten die Menschen es satt. Hinzukamen die Verbote der Regierung, die sie zuvor erlassen hatte. Der Angriff der Polizei hat das Fass zum Überlaufen gebracht. In diesem Land kennen die Vergewaltigungsfälle keine Grenzen. Es gibt Zwangsverheiratung und andere Missstände. Aber es gibt ein vergleichsweise geringes Alkoholproblem zwischen den 18 und 24-Jährigen. Statt die anderen Probleme anzugehen, erlässt die Regierung ein Alkoholverbot. Wir haben Probleme beim Wahlgesetz, die Wahlhürde muss runter, wir müssen Schritte zu einer wirklichen Demokratie machen. Bei all diesen Themen gibt es keine Fortschritte. Aber stattdessen wird ein Alkoholverbot erlassen.

Was ist das erste gewesen, was ihnen durch den Kopf ging, als Sie von den Angriffen hörten. Wollten sie direkt vor Ort sein? Oder musste zunächst die Arbeit der Kommission der Weisen getätigt werden?

Ich bin in Frankreich durchgedreht. Ich wollte unbedingt vor Ort sein. Danach, als ich dort war, hat die Situation einen chaotischen Zustand angenommen. Ich hatte Angst, dass eins, zwei marginale Gruppen, nicht die Mehrheit wie gern behauptet wird, versuchen würden, die Aufstände gegen den Friedensprozess zu lenken. Natürlich, neben all den Aufständen läuft eben noch dieser Prozess. Wobei ich heute auch nicht mehr mit Gewissheit sagen kann, dass dieser Prozess noch weiterläuft.
Und dann wird behauptet, die Kommission der Weisen solle sich in den Fall einschalten. Unsere Aufgabe ist es, mit den Menschen über ein bestimmtes Thema zu sprechen, ihre Meinungen anzuhören und einen Bericht anzufertigen. Zum ersten Mal haben wir mit den verschiedensten Menschen über die Frage an sich und ihre Hoffnungen und Wünsche gesprochen. Natürlich haben wir uns auch ihre Bedenken angehört und notiert. Wir haben die Menschen gefragt, was für eine Türkei sie sich in zehn Jahren wünschen. Aber wie können wir jetzt, nach den Taksim-Aufständen erneut dieselbe Frage stellen, wo doch nicht einmal klar ist, wie es morgen im Land aussehen wird?

Was war die allgemeine Reaktion, die Sie bei ihrer Arbeit in der Kommission der Weisen erhalten haben?

Alle wollen Klarheit haben. Was wurde gegeben, was dafür erhalten? Die Leute denken oft in Mustern, wie sie beim Handel auf dem Markt vorkommen. Einer aus Mersin sagte: „Habt ihr schon Mal darüber nachgedacht? Wir geben Demokratie und nehmen die Waffen.“ Das sind die Versprechungen, die gemacht wurden: Mehr Demokratie, gleiche Bürgerrechte und dafür werden die Waffen niedergelegt. Keiner hat einen Einwand dagegen, wenn gesagt wird, dass das Blutvergießen gestoppt werden soll. Wir wurden jedoch mit vielen Bedenken konfrontiert, die immer mit dem Wörtchen „aber“ begannen. Wir haben mit einer Frau, die zu einer Gruppe CHPler gehörte, ein kurzes Gespräch gehabt. Ihr Sohn leistete gerade seinen Wehrdienst und sie sprach sehr gutmütige Worte zum Prozess. Wenn es also um den eigenen Sohn geht, ticken die Leute schnell anders. Über die Söhne der anderen zu sprechen, sie in den Krieg zu schicken, ist dagegen einfach.
Wir müssen deshalb auch das Denken in Kategorien und Fraktionen überwinden. Stattdessen müssen wir uns auf Prinzipien einigen. Selbst wenn es die MHP wäre, die Schritte für einen Frieden einleiten würde, ich würde mit ihr arbeiten.

Wie stehen ihre Friedenshoffnungen vor dem Hintergrund der letzten 20–25 Tage?

Am Anfang schien der Ministerpräsident sehr gewillt diesen Prozess voranzubringen. Und wenn er dies wirklich hinkriegt, dann wird er in die Geschichte eingehen. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob er es schafft oder auch schaffen will. Ich frage mich, für was wir uns so viele Schimpfworte anhören mussten? Für was haben wir so viel Mühe aufgebracht und die Gedanken der Menschen uns angehört?
Ein Teil der Menschen sagt, dass er das Ganze nur deswegen macht, weil die Wahlen wieder näher rücken. Ich weiß es nicht, aber das Gerede von den 50%, mit denen Erdogan droht, beunruhigt mich doch sehr.

lale mansurWollen Sie uns noch mitteilen, wie sich die Arbeit in der Kommission der Weisen auf ihr privates Leben ausgewirkt hat? Gibt es Kritik?

Als ich mit meinen Ehemann Cem zu unserem 29. Hochzeitstag nach Antalya gereist bin, haben einige Frauen uns beschimpft. Sie sagten Sachen wie „verflucht seid ihr“. Cem fragte mich, ob ich ihnen nicht antworten wollen würde. Ich sagte nur, siehst du etwa etwas, auf das es Wert wäre zu antworten?

Machen Reaktionen wie diese Sie traurig?

Nein. Ich laufe aufrecht und stehe zu dem, was ich mache. Ich habe auch nie einer Gruppe angehört. Ich habe niemals der AKP meine Stimme gegeben. Der CHP habe ich mal meine Stimme in der Vergangenheit gegeben. Aber nun würde ich ihr nichts geben, noch nicht einmal meine Sünden.

Quelle: Milliyet, 23.06.2013, ISKU

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