Hintergründe der erneuten Eskalation in Syrien

Politikwissenschaftler Dr. Mustafa Peköz über die Implikationen des Angriffs der USA, Frankreichs und Englands auf Syrien, 20.04.2018

Wie sind die derzeitigen Konflikte zwischen den USA und Russland vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage einzuordnen?

Die USA und Russland sind die beiden wichtigsten militärischen Mächte auf der Welt. Sie geraten miteinander immer wieder auf internationaler Ebene in Konflikt. Beide Mächte versuchen insbesondere in Zentralasien, Eurasien und dem Mittleren Osten ihre Hegemonie aufzubauen. Sie versuchen ihre jeweilige Macht auf regionaler Ebene durchzusetzen. Seitdem Putin, selbst ein ehemaliger KGB-Agent, in Russland an die Macht gelangte, versuchte Russland mit Erfolg in Gebieten, die früher unter sowjetischem Einfluss standen, den eigenen Einfluss auszubauen. Unter Putins Führung gelang es Russland, neben den militärischen und politischen Beziehungen auch bedeutende Energiequellen unter Kontrolle zu bringen. So wurde ein wichtiges Gleichgewicht gegenüber Europa aufgebaut. Nachdem man militärisch geschlagen war, gab Russland der Ausweitung des eigenen Einflusses im Mittleren Osten besondere Bedeutung. Die militärisch-politischen Beziehungen Russlands zum Iran sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Russland setzte durch die Beteiligung am Krieg in Syrien auch die eigene Militärmacht in der Schwarzmeerregion ein. So wurde der NATO gezeigt, dass Russland in der Region eine wichtige Macht ist.

Die USA besetzte im Jahr 2001 Afghanistan und verdeutlichte damit den Anspruch, die einzige globale kapitalistische Führungsmacht zu sein. Die US-Strategen entwickelten den Anspruch, militärische Kapazitäten aufzubauen, mit denen in drei unterschiedlichen Regionen der Welt gleichzeitig Krieg geführt, bei Bedarf auch mehrere Besatzungsoperationen durchgeführt werden könnten. In dieser Hinsicht wurde die USA als das römische Imperium des 21. Jahrhunderts betrachtet. Afghanistan und der Irak wurden als Teil dieser Strategie betrachtet. Die USA versuchte durch den Aufbau militärischer Basen im Mittleren Osten und Zentralasien die eigene Macht in Asien durchzusetzen.

In den seither vergangenen 17 Jahren gelang es Russland, im Mittleren Osten und Eurasien wieder einen gewissen Grad von Kontrolle auszuüben. Die USA erlitten in Afghanistan schwere Niederlagen und konnten keine politische Stabilität durchsetzen. Auch im Irak konnte sie nicht wie erwartet die eigene Macht durchsetzen. Die USA hat im Mittleren Osten und Zentralasien entscheidend an Einfluss verloren. Bei der Konkurrenz der USA und Russlands in Syrien handelt es sich daher vor allem um die Frage, wer erfolgreicher die eigene Mitteloststrategie durchsetzen kann. Am deutlichsten zeigt sich dieser Krieg in Syrien. Auf der einen Seite steht Russland und auf der anderen Seite die USA, die Kontrolle über die Golfstaaten ausübt und diese Situation so beibehalten möchte. Wer sich am Ende durchsetzt, wird sich durch die regionalen Gleichgewichte und Bündnisse entscheiden.

In letzter Zeit wird wieder vermehrt von dem Beginn eines neuen „Kalten Krieges“ gesprochen. Ist diese Analyse Ihrer Meinung nach zutreffend?

Jede historische und politische Phase bringt zu ihr passende militärische und politische Strategien hervor. Die Strategie des „Kalten Krieges“ aus der jüngeren Vergangenheit war Ausdruck eines Konflikts zwischen der ‚kapitalistischen Welt‘ und der ‚sozialistischen Welt‘. Die Konflikte zwischen den beiden verfeindeten Lagern fanden in fast allen Teilen der Welt statt. Das Machtgleichgewicht zwischen der Sowjetunion und den USA war in diesem Sinne die Folge eines Konflikts zwischen zwei unterschiedlichen ideologisch-politischen Systemen.

Die Sowjetunion und der Warschauer Pakt lösten sich letztendlich auf. Russland ist mittlerweile auf ökonomischer und politischer Ebene zu einem wichtigen Teil des globalen kapitalistischen Systems geworden. Das aufstrebende Russland entwickelte keine Alternative zum globalen Modell, sondern harmoniert sehr mit dem globalen System. Daher ist es nicht möglich, dass die USA und Russland aufgrund ihres regionalen Machtkampfes im Mittleren Osten wieder in eine Phase des ‚Kalten Krieges‘ eintreten. Dafür fehlen die ökonomischen und politischen Grundlagen. Der Machtkampf in der Region findet vor dem Hintergrund der jeweiligen militärischen, politischen und ökonomischen Interessen der beiden Mächte statt. Ich denke daher, es wäre nicht richtig, diese neue Phase als neuen ‚Kalten Krieg‘ zu bezeichnen.

Kann man angesichts des militärischen Schlagabtauschs im Rahmen der regionalen Konflikte der beiden Mächte von der Gefahr eines neuen Weltkrieges sprechen?

Die Konkurrenz der USA und Russlands wird sich im Rahmen regionaler Auseinandersetzungen fortsetzen. Diese Konkurrenz und die damit einhergehenden Konflikte werden aber angesichts der globalen Beziehungen nicht den Weg für einen Weltkrieg im Stil der Vergangenheit bereiten. Wir befinden uns in einer Zeit, in der auf globaler Ebene eine transnationale Ökonomie hegemonial ist. Ich denke daher, dass ein Weltkrieg im Stil des 1. oder 2. Weltkrieges nicht den Interessen des globalen Systems entsprechen würde.

Wenn wir unbedingt von einem Weltkrieg sprechen wollen, können wir sagen, dass der Dritte Weltkrieg derzeit tatsächlich in Form regionaler Kriege geführt wird. Er unterscheidet sich also in seiner Art von den vergangenen Weltkriegen. Dieser Krieg begann mit der Besetzung Afghanistans und wir mit den Kriegen im Irak, Libyen und Syrien fortgesetzt. Diese neue Art der globalen Kriegsstrategie wird auch in Zukunft eher in Form regionaler Kriege fortgesetzt werden.

Eine direkte Konfrontation der USA und Russlands wird es nicht geben. Wenn wir die jüngsten Angriffe der USA, Frankreichs und Englands auf Syrien betrachten, sehen wir, dass keine russischen Kräfte angegriffen wurden und auch Russland das S-400-Luftabwehrsystem nicht zum Einsatz brachte. Dieses Gleichgewicht wird andauern. Die Operation gegen Syrien bleibt also begrenzt und wird nicht wie z.T. erwartet ausgeweitet werden. Sie überhaupt fortzusetzen ist schon schwer genug. In einer Welt, in der zahlreiche Länder über Atomwaffen verfügen, ist ein Weltkrieg, in dem alle Seiten verlieren würden, sehr unwahrscheinlich. Auch der Krieg in Syrien wird einem derartigen Weltkrieg nicht den Weg bereiten.

Die verschiedenen Akteure, die an den Konflikten im Mittleren Osten beteiligt sind, scheinen unterschiedliche Syrien-Strategien zu verfolgen. Können wir davon sprechen, dass die Angriffe der USA, Frankreichs und Englands auf Syrien auf internationaler Ebene zu einer neuen Blockbildung führen werden?

Die Antwort auf diese Frage steht in direkter Beziehung zur Antwort auf Ihre erste Frage. Es ist klar, dass die Blockbildung nicht entlang der Konflikte zwischen einem kapitalistischen und einem kommunistischen Lager verläuft und auch in Zukunft nicht entlang derartiger Grenzen verlaufen wird. Die Syrien-Operation ist Ausdruck eines Konkurrenzkampfes zwischen den globalen Mächten USA und Europa auf der einen Seite und den schnell aufsteigenden asiatischen Mächten Russland und China auf der anderen Seite. Zudem zeigt der Konflikt, dass beide Seiten im Mittleren Osten und Zentralasien versuchen, ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen und dadurch in Konkurrenz miteinander geraten. Dabei kommt es auch zu sehr ernsten Konflikten zwischen Europa und der USA, die sich wie eine Alleinherrscherin aufführt. Russland und China handeln nicht wie vielleicht angenommen im Rahmen eines eindeutigen gemeinsamen Einverständnisses. Auch Deutschland hat erklärt, keine aktive Unterstützung für den Krieg in Syrien leisten zu wollen. Auf ähnliche Weise hat China trotz seiner Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat keine aktive Rolle für die Beendigung der Syrien-Krise eingenommen. Daher wäre es nicht richtig, von einer klassischen Blockbildung angesichts der Machtkämpfe der USA und Russlands in Syrien zu sprechen. So sind die USA und Russland z.B. im Rahmen ihrer Energiebeziehungen sehr aufeinander angewiesen. In der NATO sind die USA und die EU vertreten und doch legte die EU ihr Veto gegen die Aufnahme der Ukraine in die EU ein. Während die USA eine erneute Eskalationspolitik gegenüber dem Iran führen wollen, weigert sich die EU dagegen. Ich denke daher nicht, dass der Konflikt in Syrien auf globaler Ebene zu einer Bildung zweier strategischer Blöcke führen wird. Die Ereignisse in der Region bestätigen diese Einschätzung.

Als Grund für die Operation wurde der Einsatz von Giftgas seitens des Assad-Regimes vorgeschoben? Kann das Assad-Regime in dieser Zeit wirklich Giftgas in Ost-Guta eingesetzt haben?

Wie sie wissen wurden Giftgas-Attacken in Syrien schon mehrmals auf die Tagesordnung gebracht. Später ist hervorgetreten, dass die Versuche Giftgas einzusetzen, nicht von Seiten des Assad-Regimes, sondern von radikal-islamistischen Organisationen umgesetzt wurden. Zudem wurden nach der Einnahme von Guta die der Türkei nahe stehenden islamistischen Militanten, zusammen mit ihren Familien nach Al-Bab und Idlib gebracht. Es scheint nicht logisch zu sein, dass in einer Zeit, wo die islamistischen Gruppen die Entscheidung getroffen haben Guta aufzugeben, nun vom Assad-Regime Giftgas eingesetzt wird. Regime wie das von Assad haben das Potential Giftgas einzusetzen. Doch der Einsatz in Guta ist nicht besonders realistisch. Zudem führt nicht Assad den syrischen Krieg, sondern Russland und der Iran. Ohne die Entscheidung und Zustimmung dieser beiden Kräfte kann von solch einem Vorstoß nicht die Rede sein. Weder Russland, noch der Iran würden erlauben chemische Waffen einzusetzen.

Was verfolgt die Operation des Dreierbündnisses der USA, Frankreich und England für ein Ziel?

Als Vorwand wurde der Einsatz von chemischen Waffen vorgeschoben und es hieß man habe Beweise. Russland forderte die Darlegung der Beweise, aber es wurden keine klaren Fakten auf den Tisch gelegt. Das heißt es geht im Wesentlichen nicht um die chemischen Waffen. Im Zentrum dieser Operation befindet sich die USA. England und Frankreich können als aktive Unterstützer bezeichnet werden. Das primäre Ziel der USA, Englands und Frankreichs ist es den zunehmenden Einfluss von Russland im Mittleren Osten zu brechen und seine Einflusssphären zu begrenzen. Man beachte, dass nach dem Giftmord eines angeblichen russischen Doppelagenten in London, Russland für schuldig erklärt wurde und eine Vielzahl von NATO-Ländern, vor allem England und die USA einen diplomatischen Krieg gegen Russland angezettelt haben. Viele russische Diplomaten wurden ausgewiesen. Russland hat dies erwidert. Auch den „Operationen“ gegen Moskau nach dem Giftmord, wo auch keine ernsthaften Beweise vorgelegt wurden, liegt der zunehmende militärische Einfluss von Russland in der internationalen Politik zu Grunde. Die militärischen und politischen Implikationen des steigenden Einflusses Russlands, vor allem in Syrien machen sich im Mittleren Osten bemerkbar. Das ist in gewisser Art und Weise ein Angriff auf den Herrschaftsraum der USA. Die zunehmende Ausdehnung der Hegemonie Russlands im Mittleren Osten, ist gleichbedeutend mit der Transformation der Kräftegleichgewichte und Beziehungen in den kommenden Jahren. Es brauchte eine Botschaft für die Eindämmung des zunehmenden Einfluss von Russland. Die Operation gegen Syrien beinhaltete eigentlich eine Botschaft an Russland. Es ist klar, dass Russland nun jeden militärischen Vorstoß mehrmals überdenken wird.

Als einen Teil dieser Phase muss man auch die Auswirkungen solcher Operationen auf die Wirtschaft Russlands betrachten, wo der Rubel einen ernsthaften Wertverlust erlitt. Russland wird seine Mitteloststrategie im Wesentlichen nicht ändern, aber dabei den Kräftegleichgewichten noch mehr Bedeutung beimessen. Frankreich hat insbesondere in Rojava die Entscheidung getroffen militärisch aktiver zu werden. Mit der Beteiligung an der Operation hat sie sowohl ihre eigene Kraft, aber auch ihre Position in der Region darlegen wollen.

Ein anderer Punkt ist die Begrenzung des zunehmenden Einflusses des Iran in Syrien. Syrien nimmt in der regionalen Hegemonialpolitik des Iran eine strategische Rolle ein. Dass die Unterstützung für Damaskus Früchte trägt, bedeutet geopolitisch, dass der Iran Nachbar am Mittelmeer wird. In solch einem Fall werden die politischen Gleichgewichte des Mittleren Ostens positiv für den Iran ausfallen. Die Eindämmung des Iran in Syrien ist vor allem für die strategischen Interessen von Israel lebenswichtig.

Wie hängt diese Operation mit der Iran-Politik von Trump zusammen?

Das ist das grundlegende Problem. Mit der Trump-Regierung sind ernsthafte Veränderungen aufgetreten. Die neuen Konservativen sind in Washington de facto zur Macht geworden. Sie wollen eine Phase anleiten, die der Kriegsstrategie der zweiten Bush-Ära ähnelt. Wie in der Vergangenheit wurde als primäres Ziel der Iran gewählt. Doch es gibt Unterschiede zu den 2000er Jahren. Es ist eine Realität, dass parallel zu dem unglaublichen Wachstum von Russland und China auch der Iran militärisch und wirtschaftlich gestärkt ist und diplomatische und politische Vorteile errungen hat. Deshalb ist eine umfassende Militäroperation gegen den Iran sehr schwierig. Es scheint mehr, dass die Einflusssphären des Iran eingedämmt werden sollen. Man möchte den militärischen und politischen Einfluss des Iran auf den Irak, Jemen und Syrien brechen. Es ist bekannt, dass ein wichtiger Teil der kämpfenden Bodentruppen in Syrien Militante der Hezbollah und iranische Revolutionsgarden sind. Mit der Operation gegen Syrien hat die USA auch dem Iran eine ernste Botschaft gegeben. Die Operation ist sowohl gegen Russland als zentraler Akteur im Gebiet gerichtet, hat aber auch Auswirkungen auf den Iran. Die Eindämmung des Iran in Syrien ist auch von Israel, Saudi Arabien und Ägypten gewollt. Somit ist jeder Vorstoß gegen das Assad-Regime eine Antwort gegen den Iran.

Kann man diese Operation auch als eine Botschaft an die Türkei werten, die Teil des Astana-Bündnisses ist und Afrin besetzt?

Ankara veröffentlichte zahlreiche Erklärungen zu Manbij und den Gebieten im Osten des Euphrat. Es gab sogar Erklärungen man werde in Manbij intervenieren, so wie man es in Afrin getan habe. Es war klar, das nach der Besatzung von Afrin die Angelegenheit um Manbij zur Tagesordnung werden wird. Auch wenn die Luftangriffe von den USA, England und Frankreich direkt das Assad-Regime zum Ziel hatten, hat es auch eine Botschaft an die Türkei gehabt. Diese Operation hat gezeigt, was für eine Reaktion es geben wird, wenn die Türkei sich direkt oder indirekt gegen Manbij wendet. Frankreich hat mit der Operation eine Antwort auf Erdogans Drohung in Hinsicht auf die Verlegung französischer Soldaten in Manbij gegeben. Es bedeutet, dass selbst ein kleiner Vorstoß der Türkei auf Manbij sehr harte Reaktionen mit sich bringen wird. Die USA, welche den Kanton Afrin nicht als ihren Sicherheitsbereich ansah und Ankara dazu ermutigt Afrin anzugreifen, wird in Manbij eine gegenteilige Position einnehmen.