»Jin Jiyan – Der Aufbruch«

Interview mit der Schweizer Schauspielerin und Leiterin der Volksbühne Basel, Anina Jendreyko, 29.07.2019

Im Theater Mönchengladbach fand am 6. April die Uraufführung eines Theaterstücks von Anina Jendreyko basierend auf Recherchen in Şengal und Südkurdistan statt. Das Theaterstück »Jin Jiyan – Der Aufbruch« gibt nach Angaben der Volksbühne Basel, die das Stück in Zusammenarbeit mit dem êzîdischen Frauendachverband e.V. und in Kooperation mit dem Goethe-Institut Irak produziert hat, unterschiedlichen Perspektiven der Êzîd*innen im Şengal eine Stimme zwischen Tradition und Neuaufbau. Im Mittelpunkt steht die Kraft der êzîdischen Frauen. Ein gemischtes Ensemble aus Schauspieler*innen des Gemeinschaftstheaters sowie êzîdischen und kurdischen Künstler*innen geht unter der Leitung von Anina Jendreyko den Entwicklungen im Şengal seit 2014 nach mit dem Ziel, an einer künstlerischen Brücke der Verständigung zu bauen.

Wie kam es zu dem Theaterstück »Jin Jiyan – Der Aufbruch«?

Ich war bei einem Theaterkongress vom ITI (Internationales Theaterinstitut), das weltweit organisiert ist und alle 4 Jahre einen Weltkongress hält. Ich war dort eingeladen, um einen Workshop zu geben, und habe dort den Schauspieldirektor Matthias Gehrt des Theaters Krefeld-Mönchengladbach kennengelernt. Wir kamen ins Gespräch, bei dem ich ihm von meinen verschiedenen Theaterarbeiten erzählt habe, die seit vielen Jahren immer auch eine Bezugnahme auf die kurdische Gesellschaft haben. Kurz danach hat er mir geschrieben und mich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, ein Stück zu den Êzîdinnen und Êzîden zu machen. Zu den Êzîd*innen allgemein habe ich erst einmal gesagt, dass ich das nicht kann bzw. nicht möchte. Es geht nicht, als »Nicht-Êzîdin« ein Stück zu den Êzîd*innen zu machen, völlig unmöglich. Aber zu einem Ausschnitt und zu einem wesentlichen Ereignis in der êzîdischen Geschichte, dazu könnte ich mir sehr wohl vorstellen ein Stück zu entwickeln, und zwar zu der Wende bzw. dem Aufbruch 2014, nachdem die kurdische Befreiungsbewegung einen humanitären Korridor in den Şengal errichtet hatte nach den barbarischen Angriffen des Islamischen Staates (IS); zu diesem Ereignis und den durch dieses Ereignis hervorgegangenen Veränderungen und Entwicklungen, das würde mich interessieren, und das könnte ich mir vorstellen. Und er hat gesagt, okay, machen wir. Für mich war von Anfang an klar, dass ich mit Schauspieler*innen aus dem Ensemble des Theaters Krefeld arbeiten musste und ich nicht meine eigenen Leute der Volksbühne Basel mitbringen konnte, dass die Schauspieler*innen von Krefeld – die bis dahin noch nie in Berührung mit der Situation in den kurdischen Gebieten, mit dem Şengal, mit der Geschichte der Êzîd*innen gekommen waren –, dass wir als Voraussetzung, um das Stück zu erarbeiten, gemeinsam in den Şengal fahren müssen. Das Theater hat dazu Ja gesagt.

Das Stück spielt in der Reihe außereuropäisches Theater. Eigentlich ist es in dem Format bis dahin so, dass Regisseurinnen und Regisseure aus anderen außereuropäischen Ländern eingeladen werden und ein bestehendes Stück aus ihrem Land am Theater mit dem Ensemble inszenieren. Dass die am Stück Beteiligten nun ins Land fahren, ist zum ersten Mal die Bewegung in die andere Richtung. Weitere Voraussetzungen für mich waren, dass die Protagonistin eine kurdische oder êzîdische Schauspielerin sein muss und natürlich kurdisch-êzîdische Musiker*innen – diese und die Protagonistin konnte ich dann als Gäste mit ans Theater bringen. Die Stückentwicklung ist daher eine Koproduktion der Volksbühne Basel und des Theaters Krefeld-Mönchengladbach in Zusammenarbeit mit dem Dachverband des êzîdischen Frauenrates e.V.

Der verheerende Angriff des Islamischen Staates (IS) auf die êzîdische Bevölkerung im August 2014 jährt sich dieses Jahr zum 5. Mal. Mit deinem Ensemble bist du ins Şengal-Gebiet gereist. Was hattest du für einen Eindruck von der Reise und wie hat dieser Eindruck sich auf das Stück ausgewirkt?

Wir, also die Theatertruppe, waren die erste deutsche Delegation, die im Şengal war. Wir hatten nur wenig Zeit, da die Schauspieler*innen aus Krefeld ja ständig eingebunden sind, und hatten im Şengal selbst nur 3 Tage. Aber diese 3 Tage waren so voll wie sonst vielleicht 3 Wochen. Vor den Tagen im Şengal waren wir noch in Laliş gewesen.

Für die Theatergruppe war die Reise sehr wichtig. Niemand von ihnen war vorher in den kurdischen Gebieten gewesen, geschweige denn mit der kurdischen Bewegung in Berührung gekommen. Sie kannten eigentlich nur die in Deutschland regelmäßig stattfindenden Demonstrationszüge und Kundgebungen der Kurd*innen und die nur aus der Ferne. So war diese direkte Begegnung, in Berührung mit den Menschen vor Ort zu kommen, sehr wichtig, sowohl mit der Zivilbevölkerung als auch mit den Frauen und Männern der Selbstverteidigungseinheiten. Es war auch sehr lehrreich. Eine Schauspielerin sagt am Ende des Theaterstückes: »Vor der Reise war ich mir sicher, dass wir den Menschen dort etwas zu geben haben, etwas geben müssen. Später ist mir klar geworden, dass es genau andersherum war: Ich habe etwas bekommen, und zwar Mut. Den Mut der Frauen dort zur Veränderung, ihr Aufbruch hat eine ganz große Kraft.«

Und das ging den anderen auch so – es begann eine intensive Auseinandersetzung mit einer anhaltenden Wirkung zu der ganzen Geschichte der kurdischen Bewegung. Und insbesondere zur Freiheitsentwicklung der Frau. Ich möchte ein Beispiel erzählen: Wir waren in Koço, ein großes êzdîsches Dorf, und wie man weiß, wurden 90 Prozent der Bevölkerung entweder ermordet – die Männer und die älteren männlichen Jugendlichen und älteren Frauen – oder verschleppt, vergewaltigt, missbraucht, versklavt – die Frauen und jungen Mädchen. Die männlichen Jugendlichen wurden als Kindersoldaten missbraucht. Wir haben das Dorf besucht, es ist komplett zerstört, damals waren die Massengräber noch nicht geöffnet worden. Zum Dorf kann man nur mit Begleitschutz fahren, und um nach Koço hineinzukommen, muss man einen Checkpoint passieren. Zwei Milizionäre, die das Dorf mit bewachen, haben uns in die Schule begleitet. Die Schule ist der Ort, wo die Dorfbevölkerung zusammengetrieben, gefangen gehalten und dann voneinander separiert wurde – auf dem Schulhof wurde der Bürgermeister, etwas weiter entfernt Hunderte von Männern erschossen. Die beiden Milizionäre gehören keiner politischen Gruppierung an, aber sie stammen beide aus Koço. Zum Zeitpunkt des Überfalls durch den IS waren sie nicht dort, daher haben sie überlebt. Beide haben ihre Familie verloren. Beide haben Schwestern, der eine konnte eine seiner Schwestern vom IS zurückkaufen, von allen anderen Schwestern haben sie keine Nachricht. Sie begleiteten uns in die Schule – vom Dach der Schule sieht man über ganz Koço, und wir kamen miteinander ins Gespräch. Für sie ist es ganz wesentlich, dass die erschossenen Dorfbewohner*innen exhumiert und nach den êzîdischen Riten bestattet werden und dass Koço wieder aufgebaut wird und die Schule zu einem Mahnmal wird – denn nie darf vergessen werden, was dort geschehen ist. Das legten sie uns sehr ans Herz. Sie bewachen den Ort – die Massengräber –, aber sie wollen nie wieder an diesem Ort leben. »Ich habe alles verloren, was ich hatte«, sagte einer von ihnen. Nach dem Besuch, als wir zurück auf der Hochebene im Şengal-Gebirge waren, gab es eine Gesprächsrunde und einer der Männer unserer Delegation, einer, der sonst viel redet und vieles erklärt haben will, um es einzuordnen, war auffallend ruhig. Erst nach einigen Stunden suchte er das Wort und meinte: Das Ausmaß der Gewalt, dieser Zerstörungsrausch habe ihn tief erschüttert, immer wieder kam ihm sein Großvater in den Sinn. Der war Soldat während des 2. Weltkriegs, und von ihm hörte er, wie Hitlers Truppen in Russland einmarschierten, die Dörfer in Brand setzen, die Frauen schändeten und eine Wüste des Grauens hinterließen. Das, was er nun hier in Koço und auch in Şengal-Stadt sieht, das Ausmaß der Zerstörung und Gewalt, macht ihn zutiefst betroffen – vor allem auch, weil er sich seit Koço immer wieder gefragt hatte, wie er gehandelt hätte, wenn er mit einem solchen Gewaltrausch konfrontiert gewesen wäre – der Blutrausch der Soldaten, der IS-Männer –, wäre er selber davor gefeit gewesen oder hätte er sich vom Sog mitreißen lassen? Und eine solche Frage hatte er sich noch nie selber gestellt, sondern war damit nur immer intellektuell, es von sich weisend, umgegangen. Und in Koço sei ihm das plötzlich in den Nacken gesprungen. Und jetzt hier muss er sagen, dass diese Gewalt und dieser Rausch etwas zutiefst Männliches ist, dass er sich das so noch gar nicht überlegt hatte, weil er noch nie in diesem Ausmaß, so real, damit konfrontiert war. Ein Heval (ein Freund in der kurdischen Befreiungsbewegung), ein Êzîde, der sich der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung angeschlossen hat und seit 4 Jahren im Şengal ist, stand auf und sagte, dass er genau versteht, von was er redet, und dass diese Auseinandersetzung eine ganz wesentliche Frage berührt, mit der er sich intensiv beschäftigt. Es gab ein sehr offenes und tiefes Gespräch, am Ende haben sich beide Männer umarmt – und das hallt natürlich nach und wirkt ins Jetzt hinein. Der Inhalt des Gesprächs wirkt weiter über den Şengal hinaus.

Solche und andere Begegnungen vor Ort haben die ganze Probenarbeit mit beeinflusst. Ebenso wichtig war mir, dass die Gruppe einen Eindruck vom Prozess der Selbstermächtigung, der Selbstverwaltung mitbekommt, denn das ist einer der wichtigen Inhalte im Theaterstück. Dass begriffen werden kann, was im Şengal passierte, dass es die kurdische Befreiungsbewegung war, die den Genozid verhinderte, durch die Öffnung des humanitären Korridors, und was seither für eine Wende eingesetzt hat. Wenn man v. a. über die allgemeine Berichterstattung beeinflusst ist, dann bleibt die Vorstellung dessen, was sich im Şengal entwickelt, bei der Vernichtung hängen. Das Bild eines zivilgesellschaftlichen Prozesses aber bleibt ganz abstrakt. Daher war es so wichtig, dass die Theatertruppe mit den zivilgesellschaftlichen Strukturen in Berührung kommt, dass die Vorstellung in die Hand kommt, sinnlich, fassbar, begreifbar wird – nur so stehen dann hinter den gesprochenen Texten auf der Bühne auch ganz konkrete Bilder.

Wir, das Team der Volksbühne Basel (eine unabhängige Theaterproduktionsgemeinschaft), waren zu dritt gemeinsam mit einer Übersetzerin im Januar/Februar und im November/Dezember 2018 im Şengal. Wir waren dort, um uns selber einen Eindruck zu machen, und im Wesentlichen, um mit ganz vielen verschiedenen Menschen zu sprechen. Der Kern des Stückes dreht sich um die Ereignisse im August 2014 und die seither einsetzende Entwicklung und Veränderung innerhalb der êzîdischen Gesellschaft. Den Menschen, die das erlebt haben, die am Wiederaufbau beteiligt sind, geben wir eine Stimme, daher haben wir sehr viele Interviews geführt. Aus diesem Material, den Interviews, ist der Text für das Theaterstück entstanden.

Erst bei der dritten Reise war das Ensemble des Theaters Krefeld und der Schauspieldirektor dabei. Natürlich war das eine sehr kurze Reise für die Theatertruppe. Man muss dazu sagen, um überhaupt in den Şengal zu kommen, braucht man ein irakisches Visum. Das zu bekommen ist schon eine wirklich herausfordernde Aufgabe, die unendlich viel Beharrlichkeit und Geduld benötigt. Im Februar 2018 gab es 38 Checkpoints, die man passieren musste, Ende 2018 waren es ein paar weniger und bei der dritten Reise Anfang Januar 2019 ging die Reise bis Mosul relativ reibungsfrei, aber nach Mosul wurde es jedes Mal unheimlich schwierig. Immer wieder wurde versucht, uns den Weg in den Şengal zu versperren. Fadenscheinige Argumente wurden von den verschiedenen Verantwortlichen des jeweiligen Checkpoints angeführt, es würde um unsere Sicherheit gehen, die könnten sie nicht garantieren, und gleichzeitig natürlich genaue Befragungen, was wir machen, und dann wird immer der Geheimdienst eingeschaltet – ewiges Warten, er brauchte immer Stunden, bis er da ist, und spricht meist interessanterweise türkisch. Und dann, wenn wir endlich weiterfahren konnten, war nie mehr von Schutz oder Sicherheit die Rede. Fast jeder Checkpoint untersteht einer andern Milizeinheit, das sieht man an den verschiedenen Fahnen, und diese Fahrt durch ein komplett vom Krieg zerstörtes Land – ich meine den Irak –, das ist sehr erschütternd. Als wir im Januar 2018 durch Mosul fuhren (knapp drei Monate nach der Befreiung vom IS), sahen wir keine einzige Frau auf den Straßen, Bilder absoluter Verwüstung, brachiale rohe Gewalt. Diese ganze Fahrt von Hewlêr bis nach Şengal war eine Fahrt durch eine Wüste des Krieges. Und wenn man die Geschichte des Iraks kennt und dieses Ausmaß der Zerstörung, der Trostlosigkeit, der Agonie sieht und weiß, wie entwickelt dieses Land gewesen war, was die Bildung für eine Rolle spielte, wie reich es eigentlich noch immer mit seinem ganzen Öl ist. Und nichts mehr davon ist da, wenn man das physisch sieht, dass der Krieg (der Gebietsanspruch der internationalen Mächte) auf dem Rücken der Menschen ausgetragen wurde und wird, dann durchläuft man ein Wechselbad zwischen Entsetzen, unglaublicher Wut und Sprachlosigkeit. Auch wenn im Januar 2019 schon viel mehr Leben auf den Straßen war, durchlebten dieses Wechselbad alle Teilnehmer*innen der Theatergruppe. Niemand von ihnen war vorher den Folgen von Krieg so begegnet.

Das Ausmaß der Zerstörung ist im Şengal nicht anders, aber – und das ist sehr wesentlich – die Energie im Şengal ist komplett anders. Keine Trostlosigkeit und Agonie. Die Menschen strahlen etwas ganz anderes aus. Das Leben, die Hoffnung steht im Vordergrund, der Aufbruch ist spürbar und dadurch tritt die Zerstörung in den Hintergrund. In Şengal kommt nicht ein Kind, das bettelt, auf dich zu – in Mosul bist du ständig damit umgeben. Das zu erleben war unheimlich wichtig.

Die Zuversicht der Menschen vor Ort, ihre Entschlossenheit, für sich selbst einzutreten, ist überwältigend. Und das wurde auch immer wieder sehr direkt gesagt, es gibt eine unendliche Enttäuschung gegenüber der internationalen Gemeinschaft und den europäischen Staaten. »Warum lässt man uns so im Stich – was ist mit den viel beschworenen Menschenrechten? Sind wir keine Menschen?«, wird immer wieder gefragt! Es gibt keinerlei Hilfe, kein Cent der gespendeten Gelder kam im Şengal an, alles blieb in der autonomen kurdischen Region (unter Mesûd Barzanî). Der ganze Wiederaufbau, die Eröffnung der Schulen, die Infrastruktur, alles wird aus eigenen Kräften gemacht. Und es fehlt wirklich an allem. Aber die Menschen lassen nicht los, sie wissen, dass die Zermürbung, die Nichtunterstützung, auch eine Strategie der Vertreibung ist. Der IS hat alle Dörfer komplett vermint, aus eigenen Kräften (mit den Widerstandseinheiten YBŞ und YŞJ) werden die Dörfer entmint, denn die Bevölkerung will zurück in die Dörfer – sehr viele leben noch auf der Hochebene in den Zeltstädten.

Während in der Öffentlichkeit in Bezug auf den êzîdischen Genozid vor allem die Opferrolle der Frauen betrachtet wird, steht in deinem Stück die Kraft der êzîdischen Frauen im Vordergrund. Was möchtest du damit vermitteln?

Warum stelle ich die Macht der Frau ins Zentrum? Kaum jemand hatte von den Êzîdinnen und Êzîden gehört, bevor im August 2014 der Şengal vom IS überfallen wurde mit dem Ziel, die gesamte Glaubensgemeinschaft dort auszulöschen. In den Medien hörten wir vor allem von den Gräueltaten des IS und nach 2014 überwiegend über die êzîdischen Frauen, die vom IS geraubt, vergewaltigt und auf dem Sklavenmarkt verkauft wurden. Das Bild der Frau als Kriegsbeute, des geschändeten Opfers, wurde und wird so ein weiteres Mal verfestigt. Dieses von den Medien geschaffene Bild zementiert die Haltung, dass die vom Krieg betroffenen und geflüchteten Menschen, und vor allem die Frauen, hilflose Geschöpfe sind, sprich Opfer, sprich auf Hilfe angewiesen sind. Ich sage das nicht, weil ich das Leid, den Schmerz und das Grauen der Frauen und auch der Männer, die das erfahren haben, schmälern möchte, im Gegenteil, ich habe viel Mitgefühl, Trauer und Wut, empfinde eine große Solidarität mit ihnen. Aber die Perspektive zu wechseln finde ich wesentlich, denn nur die Selbstermächtigung und das Recht auf Selbstbestimmung, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, kann Unabhängigkeit schaffen. Die êzîdische Frau hat in der Geschichte des Êzîdentums eine ganz wesentliche Rolle gespielt, und im Verlauf der letzten paar 100 Jahre wurde die Stellung der Frau vor allem im öffentlichen Leben, aber auch innerhalb der Familie, immer mehr zurückgedrängt. Die islamischen Glaubensgemeinschaften und Nationalstaaten, die die êzîdische Gemeinschaft umgaben, hatten einen großen Einfluss auf die êzîdische Kultur. Die Êzîd*innen waren immer wieder Genozidversuchen, Pogromen und Verfolgungen ausgesetzt. Aber dieser Ursprung und dieses tief verwurzelte Wissen über die Kraft der Frauen, ich spreche nicht von einem intellektuellen Wissen, also nicht ein Wissen vom Kopf her, sondern eines, das im Körper, im Habitus verhaftet ist, das in Tradition, Erzählungen und Ritualen noch durchschimmert, das ist in Şengal sehr stark spürbar. Die Befruchtung, die es gab durch den Einfluss der kurdischen Befreiungsbewegung, über die Öffnung des humanitären Korridors von Rojava in den Şengal, also die Rettung von Hundertausenden Menschen, die auf dem Gebirgszug Şengal vom IS eingekesselt waren – die hat das wieder erweckt. Bei der Öffnung des Korridors waren ja auch viele Frauen dabei und die Êzîd*innen, die zuvor von der PDK, der irakischen Regierung und den internationalen Gemeinschaften im Stich gelassen worden waren, die sich von der Welt verraten fühlten, erlebten, wie die Frauen und Männer der kurdischen Befreiungsbewegung, die sie kaum kannten, kamen und sie retteten. Durch diese Verteidigung und Rettung ist eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, die wir im Theaterstück als Aufbruch bezeichnen, deswegen heißt das Stück ja auch »Jin, Jiyan – der Aufbruch« – »Frauen, Leben – Aufbruch«. In der kurdischen Befreiungsbewegung ist die Befreiung der Frau und auch die Befreiung des Mannes eine ganz wesentliche bzw. der wesentliche Motor, die wesentliche Grundlage. Ein demokratischer Prozess ist ohne die Befreiung der Frau ja gar nicht denkbar, und das passiert im Şengal. Die Entwicklung im Şengal geschieht in einem hohen Tempo, weil die Situation, die Zerstörung von allem Raum freigesetzt hat und Energie. Dass es darin auch viele Schwierigkeiten gibt und dass vieles nach den ersten Schritten viel zäher läuft, als zuerst gedacht, gehört natürlich auch dazu – aber wir waren sehr beeindruckt davon, was in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit in einem komplett zerstörten Gebiet an Struktur aufgebaut wurde. Die zivilen Strukturen der Selbstverwaltung, Schulen, Gesundheitswesen, Ökonomie … und das alles, wie bereits erwähnt, ohne Hilfe und abgeschnitten von Südkurdistan – und immer wieder auch von Rojava, da die irakische Regierung immer wieder auch die Grenzen schließt. Es gibt die Selbstverteidigungseinheiten der Frauen, die u. a. vom IS gefangene Frauen befreien. In den zivilen Strukturen sind die Frauen eigentlich die führende Kraft, und das in die Welt zu tragen und darüber zu sprechen, das ist mir ganz wesentlich, denn es macht Hoffnung, es macht Mut. Die Entwicklung, die im Şengal passiert, diese Selbstermächtigung der Frauen, der Gesellschaft, hat eine Bedeutung, die weit über den Şengal hinausgeht, und davon zu erzählen, das ist mir, ist uns wesentlich. Da steht nun mal die Frau im Zentrum. Ohne Frau keine Veränderung, keine Befreiung, ohne Frau gar kein Leben.

Am Ende des Stücks wird sich an die (deutschen) Zuschauer*innen gewendet und hierbei die Politik der Bundesregierung in Hinsicht auf die Kurd*innen hinterfragt und an die Verantwortung der Zivilgesellschaft appelliert. Was hat der Aufbruch in Şengal mit uns zu tun?

Bis August 2014 ist es immer unterlassen worden, der Stimme der êzîdischen Gemeinschaft Gehör zu verleihen. Weder bei der Staatsgründung des Iraks, die ja im Zuge der territorialen Verschiebung der Siegermächte nach dem 1. Weltkrieg geschah, noch bei den anderen Grenzziehungen noch bei der Gründung der Türkei, dem Vertrag von Lausanne, wurde die êzîdische Gemeinschaft berücksichtigt. Die Êzîd*innen sind eine der ältesten Glaubensgemeinschaften überhaupt auf unserem Planeten und diese Unterlassung, ihnen keine Stimme zu geben, damit haben die westlichen Regierungen wesentlich zu tun, und somit gibt es auch eine Verantwortung! Der andere Punkt ist, dass die Selbstverwaltungsstrukturen, die heute im Şengal aufgebaut werden, dass das Recht auf Existenz, das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht einer eigenen Gesellschaftsstruktur nicht anerkannt wird. Die türkische Regierung hat ein großes Interesse, dass es diese Anerkennung nicht gibt. Die Türkei verfolgt Großmachtinteressen, Gebietsinteressen im gesamten mesopotamischen Raum. Und die Türkei könnte ohne die Unterstützung der westlichen Mächte, allen voran Deutschlands, diesen Krieg und diese Großmachtinteressen, ja überhaupt die Machterhaltung in der Türkei nicht aufrechterhalten. In Deutschland steht die kurdische Befreiungsbewegung auf der Terrorliste. Es war die kurdische Befreiungsbewegung, die die Êzîd*innen im Şengal vor der Vernichtung gerettet hat, es war die kurdische Befreiungsbewegung, die den humanitären Korridor eröffnet, die Hilfe vor Ort geleistet hat, die den IS zurückgedrängt und ihn militärisch besiegt hat. Ideologisch ist der IS noch überhaupt nicht besiegt, dafür müssten demokratische Strukturen vor Ort wie die im Şengal und z. B. Rojava anerkannt und unterstützt werden. Solange es hier in den westeuropäischen Ländern keinen Druck gibt, die Waffenlieferungen einzustellen, die Wirtschaftsbeziehungen einzufrieren, so lange wird sich die Türkei alles erlauben. Und sie ist die größte Gefahr vor Ort, denn sie hat ein großes Interesse an der Destabilisierung der Region, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Somit unterstützt sie auf unterschiedliche Weise die entsprechenden Kräfte. Und somit tragen wir hier als Zivilgesellschaft die Verantwortung. Wenn wir Fragen nach Humanität wirklich ernst meinen, dann liegt es an uns zu handeln und einen Druck auf die Industrie aufzubauen, es braucht ein absolutes Waffenembargo.

Der Mut der Menschen im Şengal zur Veränderung, der Mut, die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen und sie nicht mehr an fremde Mächte zu delegieren, das hat auch etwas mit uns zu tun. Davon können wir viel lernen. Fragen nach dem »Was ist Wesentliches im Leben, was bedeutet es, basisdemokratische Strukturen aufzubauen, füreinander Verantwortung zu übernehmen, was meint Humanität wirklich …?« sind genauso Fragen an uns. Die Menschen im Şengal sind sehr tief mit den Fragen nach Humanität verbunden, Mensch und Natur stehen im Zentrum. Der Begriff »Humanität« ist bei uns komplett inhaltslos geworden, sich darauf wieder zu besinnen, die Dinge nicht mehr zu delegieren an die Politiker*innen, sondern die Verantwortung für Leben und Natur, für die Vielfalt, die unsere Gemeinschaften hier ausmacht, dies in die Hand zu nehmen und eine grundsätzliche Veränderung der bestehenden Verhältnisse in Gang zu setzen und daran auch wirklich zu glauben und zu dem vorzudringen, was wesentlich im Leben ist und sein kann. Zu verstehen, dass der Konsum und die Zeitgeschwindigkeit, der Wahnsinn, in dem wir uns befinden, und denen die Gesellschaften hier komplett unterworfen sind, verändert werden können – und müssen – das sind Punkte, die uns hier mit den Menschen in Şengal (und natürlich an vielen andern Orten auch) verbinden können.

Wo können Interessierte in Zukunft das Stück besuchen? Was gibt es für Vorstellungspläne?

Bei den bisher gespielten Vorstellungen hier in Mönchengladbach gab es ein sehr großes Echo des Publikums. Das Publikum war sehr durchmischt, Theatergewohnte und -ungewohnte Zuschauerinnen und Zuschauer, gemischt in Generation, Gender, Herkunft. Nach jeder Vorstellung gab es Diskussionsrunden, wirklich tolle Gespräche, das hat mich unheimlich gefreut. Und immer wieder wurde uns gesagt: »Ihr müsst mit dem Stück in die Welt hinaus«, und ja, das finde ich auch, und das wollen wir auch. Dafür braucht es Einladungen, Geld, Mittel usw. Das Stück wird ganz bestimmt in Krefeld ab Ostern 2020 wieder gespielt, und wir versuchen, in verschiedenen Städten Gastspiele zu bekommen. Erfahren kann man das über die Website der Volksbühne Basel (www.volksbuehne-basel.ch), da werden wir die Vorstellungstermine aufschreiben. Wir freuen uns natürlich auch wirklich über Vernetzung und Einladungen.

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Anina Jendreyko ist Schauspielerin und Regisseurin aus Basel und Mitbegründerin der Volksbühne Basel, einer interkulturellen freien Produktionsgemeinschaft für Theaterprojekte. Studiert hat sie an der Schauspielschule Max Reinhardt (UDK – Universität der Künste) in Berlin, danach folgten Engagements an verschiedenen Bühnen, z. B. in Frankfurt a. M., Stuttgart, Düsseldorf, Basel und Zürich. Sie lebte mehrere Jahre in der Türkei, den kurdischen Gebieten und in Griechenland und hat dort neben der Arbeit als Schauspielerin mehrere eigene Theaterprojekte aufgebaut.

Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019