Ali Çiçek, Mitarbeiter von Civaka Azad, 10.05.2019
Seit bald sechs Monaten befindet sich eine der größten Migrantengruppen in der Bundesrepublik Deutschland in kontinuierlichen öffentlichkeitswirksamen Aktionen, um ihr Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen und Gehör in der Politik, Zivilgesellschaft und den Medien zu finden.
Die Kurdinnen und Kurden sind empört über die anhaltende Isolationshaft auf Imrali und fordern die Wiederaufnahme des Gesprächsfadens zwischen den Konfliktparteien, um einen politisch-friedlichen Prozess in die Wege zu leiten. Sie nehmen dafür ihr Grundrecht – die Versammlungsfreiheit – wahr, um die Aufmerksamkeit auf das genannte Problem zu lenken, das in einem politischen Prozess gelöst werden kann und soll.
Man könnte annehmen, dass hierbei der normale Vorgang von öffentlicher Meinungs- und Willensbildung vonstattengehen würde, also die unzähligen Demonstrationen irgendwann Gehör finden und eine öffentliche Diskussion in Gang kommen wird.
Doch die so oft in Deutschland als Merkmal einer demokratischen Gesellschaft gepriesene „Öffentlichkeit“, in der die politische Meinungsbildung stattfindet, stellt sich taub, wenn es um die Belange der Kurdinnen und Kurden und den politischen Gefangenen Abdullah Öcalan geht.
Systematische Hindernisse für den Zugang zur öffentlichen Debatte
In Unkenntnis sind die politischen Entscheidungsträger der Bundesrepublik über die Forderungen der Kurdinnen und Kurden nicht. So berichtete die Bundesregierung in einer schriftlichen Antwort Ende Februar auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut, dass sie Kenntnis von 120 Aktionen der letzten drei Monaten in Deutschland im Zusammenhang mit dem Hungerstreik habe.
Die Bundesregierung führt die Aktionen in einer Übersicht einzeln auf. „In dieser anliegenden Übersicht werden 120 Veranstaltungen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen mit Themenbezug „Hungerstreik/Freiheit Öcalans“ aufgeführt, welche bundesweit im Zeitraum vom 07.11.2018 (Beginn Hungerstreik Leyla GÜVEN) bis zum 15.02.2019 durchgeführt wurden. Die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder beobachten auch dieses Geschehen unter dem Aspekt möglicher Risiken für die Sicherheitslage“, heißt es in der Antwort der Bundregierung.
Die Kurdinnen und Kurden haben, wie es die Übersicht der Bundesregierung zu den Veranstaltungen darstellt, vielfältige Formen und Aktionen von Demonstrationen gewählt, um ihrer Forderung Ausdruck zu verleihen. Von Menschenketten, Kundgebungen, Schweigemärschen, Mahnwachen bis zu Protestaktionen wie Sitzstreiks oder -blockaden, von Einzelaktionen bis zu Massendemonstrationen.
Die deutschen Behörden begnügen sich jedoch nicht damit, sich in Schweigen zu hüllen, sondern wirken aktiv dagegen, dass die kurdischen Aktivistinnen und Aktivisten ihr Anliegen an die politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Presse herantragen können. Immer werden Parteien und Institutionen vom Staatsschutz über Aktionen der kurdischen Community gewarnt und damit kriminalisiert und als eine Gefahr für die Gesellschaft dargestellt.
Den kurdischen Aktivistinnen und Aktivisten werden systematische Hindernisse auf dem Weg gelegt, die einen tatsächlich vollwertigen und gleichberechtigten Zugang zur öffentlichen Debatte verwehren.
Unreflektierter Sprachgebrauch deutscher Medien beim Thema „Kurden“
Auch der Sprachgebrauch deutscher Journalisten beim Thema „Kurden“ trägt dazu bei, die Klischees und die Vorurteile der „gewaltbereiten Kurden“ in das Gedächtnis der Öffentlichkeit zurückzurufen. Erst vor wenigen Tagen hat sich dies im Kontext der Berichterstattung der deutschen Medien zum ersten Treffen der Anwälte Abdullah Öcalans mit ihrem Mandanten seit rund acht Jahren nochmals bewahrheitet. „Der Kurdenführer Öcalan“ hieß es im Titel der deutschen Medien. Bereits in einem früheren Kommentar von Civaka Azad ((Einladung zur Selbstreflektion: Was uns an der Berichterstattung zum „Kurdenfestival“ stört)) wurde darauf eingegangen, welche Konnotationen in der deutschen Öffentlichkeit der Begriff „Führer“ herbeiruft. So haben auch die gestrigen Berichterstattungen mit ihren Begriffskonstellationen wie „Kurdenführer“ einen orientalischen, ja gar rassistischen Beigeschmack.
Neben diesem unreflektierten Sprachgebrauch deutscher Journalistinnen und Journalisten, wenn es um das Thema „Kurden“ geht, ist es bemerkenswert, dass die hunderten von der Bundesregierung als „öffentlichkeitswirksame Aktionen“ definierten Veranstaltungen keinerlei Eingang in die Medien gefunden haben.
Wenn jedoch mal der Protest in den deutschen Medien aufgegriffen wird, dann wird der Journalismus zu administrativer Polizeiberichterstattung herabgewürdigt. So berichteten die Lokalzeitungen und Medien nach der großen Newroz-Demonstration und Kundgebung in Frankfurt am Main am 23. März ausführlich über das gute Verhalten der Polizei und der Demonstranten. Fast kein Wort fiel allerdings über den Inhalt der Demonstration von über 35.000 Menschen und die Reden auf der Abschlusskundgebung. Eine Ausnahme stellt hierbei der Beitrag von Oliver Teutsch von der Frankfurter Rundschau dar, dem einzigen von dutzenden Journalisten der in seinem Beitrag ((https://www.fr.de/frankfurt/kurden-demonstrieren-neujahrsfest-newroz-frankfurt-11880351.html)) zum Newroz-Fest in Frankfurt, zumindest das Motto der Kundgebung und Demonstration nannte, während es seinen Kollegen von anderen Medien gelang, dies komplett auszublenden. So schreibt er: „Über der Bühne hängt ein großes Banner. Die Isolation durchbrechen – Freiheit für Öcalan“ steht darauf. Doch das wird nicht heute und nicht in Frankfurt entschieden.“ Mit der verschärften Repressionspolitik ist die Frage der Isolation Öcalans längst auch zu einer Frage geworden, die auch in Deutschland entschieden werden muss.
Die Warnung der Publizistin und Autorin Mely Kiyak „Was in der Türkei im Zuge der Kurdenpolitik verboten ist, wird nach und nach auch in Deutschland verboten werden.“ ist schon längst Realität. ((http://kolumne.gorki.de/kolumne-88/))
Seit den 1990er Jahren erneuerte Öcalan immer wieder seine Verhandlungsangebote, die auf Seiten des türkischen Staates jedoch auf taube Ohren stießen. Seine permanente Suche nach einem Ansprechpartner stellte damals sogar den Titel eines seiner Bücher dar: „Bir muhatap arıyorum“ (Zu Deutsch: Ich suche einen Gesprächspartner). Die neuste Erklärung Öcalans und der anderen Imrali-Gefangenen bekräftigt dies mit den Worten „Für die Lösung der Probleme besteht starker Bedarf an einer Methode demokratischer Verhandlungen, jenseits jeglicher Polarisierung und Konfliktkultur.“ ((https://anfdeutsch.com/aktuelles/anwaelte-besuchen-Oecalan-auf-imrali-11219))
Im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeitskampagne erklärte unser Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit (Civaka Azad), dass internationale Aufmerksamkeit und politischer Druck die türkische Regierung dazu bewegen könne, ihre ignorante Haltung gegenüber den Forderungen der Hungerstreikenden aufzugeben. Das Minimalziel sei, dass keiner der politisch Verantwortlichen in Deutschland letzten Endes sagen kann, er oder sie habe nichts von dem Hungerstreik der kurdischen Aktivistinnen und Aktivisten gewusst.
In diesem Sinne sucht auch die kurdische Community weiterhin nach einem Gesprächspartner. Die globale Aktionskampagne der kurdischen Bewegung mit dem Ziel die Isolation auf Imrali ein für alle Mal zu beenden, macht in Deutschland zunehmend eins deutlich: Die Frage der Isolation Öcalans ist längst ein deutsches Problem und zwingt nicht nur die türkischen Entscheidungsträger, sondern auch die Bundesregierung dazu, sich zu positionieren und zu handeln. Werden die deutsche Bundesregierung, die Medien und die Gesellschaft sich für die rechtmäßigen Forderungen der Kurdinnen und Kurden in Deutschland öffnen? Wird die Zivilgesellschaft im Zuge des Hungerstreiks erkennen, dass die Repression gegen Kurden längst ein Demokratieproblem Deutschlands ist? Denn wer die öffentliche Diskussion verbietet, wer die Berichterstattung über den Inhalt der Meinungsverschiedenheiten verweigert, wer der Gesellschaft die Tatsachen über den Charakter der kurdischen Frage in der Türkei vorenthält, sodass die freie Diskussion und rationale Auseinandersetzung über den Inhalt unterminiert wird, macht aus der Demokratie eine Farce.