Mit den Anschlägen von Paris sind die Stellvertreterkriege beendet worden

nilüfer_kocCihan Özgür im Gespräch mit Nilüfer Koc, Kovorsitzende des Kurdistan Nationalkongress,  8. Dezember 2015

Derzeit gibt es in Rojava und in Syrien bedeutende Entwicklungen. Einerseits gibt es die Russland/Türkei-Krise und andererseits erklären US-amerikanische Verantwortliche, dass kurdische Kräfte nicht auf einen etwaigen Angriff auf Dscharabulus beteiligt sein werden. Europa befindet sich seit den Anschlägen von Paris in Verteidigungsbereitschaft. Wie bewerten Sie das gegenwärtige Kräfteverhältnis und die Widersprüche? Wie werden sich Ihrer Meinung nach dieses Kräfteverhältnis, und auch die Kämpfe, auf Rojava und die KurdInnen auswirken? 

In Syrien hat eine neue Zeit begonnen. Seit fünf Jahren haben verschiedene Kräfte ihre Kriege durch die syrische Opposition führen lassen. Dies wurde als Stellvertreterkrieg bezeichnet. Sowohl die USA und Russland als auch EU-Länder haben ihren Krieg um Macht und Verteilung von der „Freien Syrischen Armee“ und ähnlichen Gruppierungen ausführen lassen. Den Stellvertreterkrieg für den türkischen Staat hat der Islamische Staat (IS) und al Nusra geführt. Auf der politischen Ebene wurde dieser Kampf auf den Kongressen erst in Genf und zuletzt in Wien und auch unter Einbeziehung des UN-Sicherheitsrats fortgeführt. Die Pariser Anschläge durch den IS sind als eine neue Situation aufgenommen worden und viele Kräfte sind in den Krieg in Syrien eingetreten.

Der türkische Staat will für sich Südkurdistan (Nordirak/KRG) erschließen

In den europäischen Staaten wird das Thema diskutiert. Sind diesbezüglich Entscheidungen getroffen worden? 

Ja. Mit den nacheinander beschlossenen Mandaten von Frankreich, Großbritannien und Deutschland zum Militäreinsatz in Syrien gilt diese neue Zeit als beschlossen. Die Republik Türkei führt gegenwärtig einen Stellvertreterkrieg; der internationale Druck dient eigentlich dazu, dies zu enthüllen. Der türkische Staat widersetzt sich dem und versucht durch eine Ausdehnung der Kämpfe in andere Regionen dem Druck zu entkommen. Nun versucht er dies in Südkurdistan.

Syrien ist ein Mikroprofil des Mittleren Ostens

Warum Syrien und nicht anderswo?

Diese neue Lage zeigt die globale Bedeutung des Krieges in Syrien. Die Kriegslösung Syriens betrifft den Mittleren Osten. Derzeit ist Syrien das Mikroprofil des Mittleren Ostens. Syrien ist also der Mittlere Osten – und der Mittlere Osten ist Syrien. Schauen wir aus dieser Perspektive, dann gewinnt die Frage – „Was wollen wir?“ – an Bedeutung. Für uns KurdInnen ist unsere Lage im Mittleren Osten entscheidend. Was andere möchten, ist uns bekannt. Derzeit gibt es zwischen uns und vielen Kräften Gemeinsamkeiten beim Kampf gegen den IS. Und dies bietet für uns eine günstige Ausgangslage. Die Staaten Türkei, Iran und Syrien jedoch beharren auf ihren Status quo, wollen die Lösungslosigkeit der kurdischen Frage aufrecht halten und wollen an den Grenzen der unerbittlich zentralistischen Nationalstaaten und dem politischen Gefüge festhalten.

Rojava ist der einzige Ort in Syrien zum Atmen

Was sollen die KurdInnen gegen diesen Vorgehen tun? Welche Politik sollten sie verfolgen?

Das im Norden Syriens liegende Rojava ist die aktuellste Lösungsperspektive. Trotz eines heftigen Kriegs hat Rojava in fünf Jahren aus eigener Kraft heraus ein politisch-gesellschaftliches und administratives Modell geschaffen. Sie haben also eine anschauliche Lösung institutionalisiert, welches niemand außer Acht lassen kann. Aus Sicht Rojavas ist zunächst eine stärkere Koordinierung und Ergänzung der Faktoren politisch-gesellschaftlich-diplomatisch-militärisch notwendig. Denn Rojava ist der einzige sichere Ort in Syrien zum Atmen. Daher werden alle Kräfte noch direkter mit der politischen Autorität in Rojava in Kontakt treten.

Die Forderung nach Selbstverwaltung in Nordkurdistan stärkt Rojava 

Nun, in Nordkurdistan gibt es die Forderung zu einer Selbstverwaltung. Seit Monaten gehen Angriffe und Widerstand weiter. Welche Wechselwirkungen gibt es zwischen Nordkurdistan und Rojava? 

Die Revolution hin zur Selbstverwaltung im Norden stärkt Rojava. Denn die Forderung nach Selbstverwaltung bringt den türkischen Staat als einen Feind Rojavas in Bedrängnis. Und die Revolution in Rojava ist für die Revolution im Norden sehr wichtig, denn der Sieg Rojavas über den IS ist auch eine Niederlage für den türkischen Staat.

Das Schicksal Rojavas und des Nordens (Nordkurdistan) ist sehr stark miteinander verwoben. Die revolutionäre Weise der Ausrufe zur Selbstverwaltung im Norden durch unser Volk nur beschränkt als lokalen Fall und nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu betrachten, schadet nicht nur dem Norden, sondern auch Rojava.

Eine Einnahme Dscharabulus stellt die geografische Einheit sicher

Das die Kantone Rojavas immer noch nicht miteinander verbunden sind, ist ein weiteres wichtiges Thema. Wie sehen Sie dies?

Um Rojava, also den sichersten Ort Syriens, zu festigen, ist die Sicherstellung der geografischen Einheit notwendig. Die Kantone Kobanê, Afrin und Cizîrê müssen miteinander verbunden sein. Dies bedeutet: Dscharabulus muss dem IS entrissen werden; dies ist für Rojava, Syrien und für alle, die gegen den IS kämpfen, von Nutzen.

Wenn Dscharabulus fällt, dann folgen Rakka und Mossul

Es gab Erklärungen von US-amerikanischen Verantwortlichen, die sagten, die KurdInnen werden keinen Platz einnehmen. Der türkische Staat sagt, die PYD wird den Euphrat im Westen nicht überqueren. Wie ist es im Falle von Dscharabulus?

Die USA und Russland sind sich einig über eine Einnahme Dscharabulus. Die Verstärkung des türkischen Militärs im Südkurdistan hängt hiermit zusammen. Mit dem Abschuss der russischen Maschine sollte Zeit gewonnen und einer Befreiung Dscharabulus vorgebeugt werden. Denn wenn Dscharabulus fällt, dann werden Rakka und Mossul geschwächt und wie Dominosteine ihr Fallen erleichtert. Mit der Befreiung Şengals, der Kontrolle über die südliche Route Hesekes und der Einnahme von Hol hat sich der Ring um den IS wirklich verengt. Und dies bedeutet die Niederlage des türkischen Staats.

In Südkurdistan ist das Problem nicht wirtschaftlicher, sondern administrativer Art

In Südkurdistan gibt es weiterhin politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen. Einige Kreise kommentieren diese Krise als Systemkrise oder Machtkrise. Wie beschreibt der KNK das Problem in Südkurdistan?

Die gesellschaftlichen Probleme in Südkurdistan, die als Krise bezeichnet werden, sind mit dem Angriff des IS im Land noch deutlicher hervorgetreten. Mit dem Einmarsch des IS in Südkurdistan hat sich gezeigt, wie unvorbereitet Politik, Verteidigung, Gesellschaft und Wirtschaft der dortigen politischen Macht noch immer gegenüber dem rasanten Wandel im Mittleren Osten gegenüber stehen. Die Fokussierung der Politik des Mittleren Ostens auf Rojava und die Begeisterung des Nordens in dieser Hinsicht wirkt sich im derzeitigen Stadium auf Südkurdistan aus. Meiner Meinung nach hat Südkurdistan – mehr als eine wirtschaftliche – eine tiefgreifende politische Krise. Ein Führungsproblem. Der derzeitige politische Aufbau kann das Land nicht führen und ist schwach in der Verteidigung. Die wirtschaftliche Krise ist das Ergebnis der Führung und der falschen Administration. Alle sprechen Tag und Nacht von der wirtschaftlichen Krise. Damit wird die Sicht auf die Realität verhindert. Die Gesellschaft soll so ruhig gestellt werden. Angst und Zweifel sind allgegenwärtig. Die Gesellschaft ist sogar so weit gebracht worden, dass sie die Gefahr einer Besetzung des Landes nicht erkennt. Die Bevölkerung ist diesen Gefahren gegenüber schutzlos. Ein an Ressourcen so reiches Land kann keine wirtschaftliche Krise haben. Das Problem ist führungsbedingt und ein Problem der Schaffung juristischer Reformen über die gerechte Verteilung.

Der türkische Staat kann versuchen, die PKK aus Şengal zu vertreiben

Was sagen Sie zur Stationierung von Soldaten durch den türkischen Staat in die Region Mossuls und den Erklärungen dazu von den Verantwortlichen Südkurdistans?

Zuletzt war es so, dass die Republik Türkei aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Rojava und in Syrien in Südkurdistan Luft holt und das Leben des IS zu verlängern versucht. Die ganze Welt weiß, dass die Republik Türkei die Soldaten nicht gegen den IS in Südkurdistan geschickt hat, sondern gegen ihren  Erzfeind, die PKK. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Türkei nun versuchen, seine Kraft zu stärken, in Şengal in einen Krieg gegen die PKK zu ziehen und sich anmaßen, die PKK aus Şengal zu vertreiben. Aber Şengal liegt geographisch betrachtet auf einer strategischen Linie nach Mossul. Die Ideen, die vergangenes Jahr über Mossul geschmiedet wurden, werden nun umgesetzt, damit sowohl KurdInnen als auch internationale Kräfte Rojava und den Südkurdistan unter Druck setzen können.